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ʿAjami in Aleppo: Eine Geschichte über reisende Motive

  1. ‘Ajami oder Damaszener Malerei: Auf den Spuren eines traditionellen Handwerks in Syrien
  2. ‘Ajami von A to Z
  3. Restaurierung von ‘Ajami – Herausforderungen und faszinierende Entdeckungen
  4. Die Großmeister des ‘Ajami-Handwerks
  5. Der Weg zum ‘Ajami-Künstler: Im Gespräch mit Mohammad Haj Qab
  6. Zwischen Tradition und Innovation: Im Gespräch mit Aliya Alnuaimi
  7. Die Geheimnisse der Alten Meister
  8. Die Seele des ‘Ajami: Interview mit Ziad Baydoun
  9. Das Aleppozimmer …ganz persönlich
  10. ʿAjami in Aleppo: Eine Geschichte über reisende Motive
  11. Beit Ghazaleh: Das Haus meiner Urgroßeltern

von Rami Alafandi

Kunst kennt keine Grenzen. Im Laufe der Geschichte ist Kunsthandwerk immer wieder auf Reisen gegangen und dabei neue Stile und Formen miteinander vermischt und angepasst. Dieser Artikel nimmt Sie mit auf eine Reise durch die Geschichte der Motive im Osmanischen Reich, illustriert am Beispiel der ʿajami-Räume in Aleppo. Er möchte zeigen, wie die ʿajami-Motive von weit her angereist sind und weder von Ländern noch Kulturen beeindruckt waren. Sie wurden vielmehr von talentierten Kunsthandwerkern getragen, die zur Schaffung eines der faszinierendsten Beispiele syrischen Kunsthandwerks beitrugen, das wir auch heute noch bewundern: verzierte Holztäfelungen, auch bekannt unter dem Begriff ʿajami.

Während der osmanischen Zeit wurden in Syrien, vor allem in den Handelszentren Damaskus und Aleppo, wohlhabende Hofhäuser mit diesen bemalten Holztäfelungen verziert. Ihre Oberfläche bot eine unendliche Fülle blumiger und figurativer Motive, die von verschiedenen Kunsthandwerkern aus verschiedenen Kulturen entwickelt wurden. Der Import talentierter Kunsthandwerker aus eroberten Gebieten in das Atelier des osmanischen Palastes war eine gängige Praxis der osmanischen Herrscher und Teil des Eroberungsplans der Sultane. Die Hauptaufgabe dieser Kunsthandwerker war es, einzigartige Meisterwerke zu schaffen, die die Bedeutung der gegenwärtig regierenden Sultane zeigten. Auf diese Weise schuf das Osmanische Reich eine Art Schmelztiegel, in dem verschiedenen Kunststile und Motive verschmolzen wurden, sodass ein ganzes Mosaik von Entwürfen entstand.

Bei näherer Betrachtung sind diese Motive noch immer auf verschiedenen Materialien wie Holz, Keramik und Manuskripten überall in der Region erkennbar. Ihre Ursprünge lassen sich auf mehrere Regionen wie Zentralasien und Europa zurückverfolgen. Obwohl die Motive aus verschiedenen Kulturen stammen, entwickelten sie sich zu drei verschiedenen Stilen, die alle auf den aleppinischen Werken von ‚ajami zu finden sind: der stilisierte (oder abstrakte) Stil (bekannt als der klassische Stil), der halbstilisierte Stil und der naturalistische Stil. Die Namen dieser Stile variieren je nach Land, Sprache und Forscher. Für diesen Artikel hat sich der Autor für die seiner Meinung nach passendste Terminologie entschieden.

Stilisierte klassische Motive blühten im 15. bis zum 16. Jahrhundert:

Stilisierte Motive sind von zentralasiatischen Motiven beeinflusst und umfassen zwei Arten von Motiven: Rumi und Hatayi. In Aleppo wurden die Stile Rumi und Hatayi während des 17. Jahrhunderts gemeinsam verwendet und tauchten in späteren Zeiten immer wieder auf. 

Rumi besteht aus systematisch und symmetrisch geformten wirbelnden Stängeln mit Blättern. Diese Motive finden sich im allseits bekannten Aleppo-Zimmer, das sich heute im Museum für Islamische Kunst in Berlin befindet, sowie im Bayt Ghazaleh in Aleppo (Abb. 1 und 2).

Der Ausdruck Rumi leitet sich ab vom arabischen und türkischen Wort für „römisch“ und bedeutet das Land der Römer und bezeichnet das Land in Anatolien (Bilad al-Rum), das vor der Übernahme durch das Sultanat der Rum-Seldschuken, Teil des römischen / byzantinischen Reiches war, welches die Motive nach Vorderasien brachte.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich Hatayi durch freiere aber symmetrische, gewellte Stängel aus und umfasst Blätter, Blüten, Blumenschmuck und einen Querschnitt von Blumen. Die Motive wurden mittels eines systematischen Farbschemas gezeichnet (Abb. 3). 

Halbstilisierte Motive blühten im 16. bis zum 18. Jahrhundert:

Halbstilisierte Motive entstanden insbesondere, als Sultan Selim I. Täbris im Iran eroberte und einen persischen Künstler namens Schah Kulu mitbrachte. Seine künstlerische Kreativität führte unter der Herrschaft des Sultans Suleiman zu einem Stil von Motiven, der als Saz bekannt wurde. Saz gleicht dem Hatayi, ist jedoch natürlicher und wird in einem vollkommen freien Zeichenstil mit langen, gewellten Stielen und stacheligen Blättern dargestellt (Abb. 4). Diese werden von Figuren von Kreaturen wie Vögeln, Engeln und mythologischen Tieren begleitet. 

Schah Kulu hatte einen begabten Schüler namens Kara Mehmed Memi, der auch ein berühmter Künstler am osmanischen Hof wurde. Er schuf einen neuen Stil, der in der Türkei nach ihm benannt ist. Der Kara-Memi-Stil ist international als „Viertelblumen“ bekannt, da er vier grundlegende, sich wiederholende Blumen umfasst: Tulpen, Rosen, Nelken und Hyazinthen (Abb. 5). 

Eines der verblüffendsten Beispiele für verzierte Holztäfelungen ist das sogenannte Aleppo-Zimmer (der ursprüngliche Empfangsraum von Bayt Wakil). Es befindet sich im Museum für Islamische Kunst in Berlin und zeigt eine Vielzahl von Motiven und präsentiert eine ganze Fülle von Motiven. Dazu gehören sowohl die stilisierten (Rumi und Hatayi) als auch die halbstilisierten Motive (Saz und Kara Memi).

Neben diesen Stilen befinden sich entlang der osmanischen Stile auch chinesische Motive, Menschen- und Tierfiguren sowie mythologische Kreaturen und Szenerien aus berühmter Literatur. Seine einzigartige Oberfläche zeigt die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und die vielfältigen Talente, die diese Künstler in nur einem Raum vereinten. 

Der naturalistische Stil begann im frühen 18. Jahrhundert:

Der naturalistische Stil entstand im 18. Jahrhundert in Istanbul, der als das Zeitalter der Tulpen (1713-1733) bekannt ist. In dieser Zeit war das Osmanische Reich stark von der westlichen Kultur und Kunst, insbesondere den Stilen des Barocks und des Rokokos beeinflusst. Klassische Stile wurden häufig durch naturalistische Motive ersetzt. Blumensträuße und Schüsseln voller Früchte hielten Einzug in die Motivdekorationen. Ein schönes Beispiel ist das Zimmer von Sultan Ahmed III im Topkapı-Palast in Istanbul. Diese Stile tauchten auch in den aleppinischen Häusern auf, wie zum Beispiel im Haus Ghazaleh und anderen Orten (Abb. 8- 10).

Das Haus Ghazaleh ist insofern interessant, als dass es viele bemalte Holztäfelungen aus verschiedenen Epochen der osmanischen Zeit enthielt. Die Täfelungen zeigten Beispiele aller oben erwähnten Stile. Bedauerlicherweise gingen die meisten der Holztäfelungen während des bewaffneten Konflikts in Aleppo von 2012 bis 2016 verloren. Jedoch hat der Verfasser dieses Artikels diese Täfelungen eingehend dokumentiert und erforscht. 

ʿAjami in Aleppo: Eine Geschichte über reisende Motive

Abb. 10: Blumenstrauß und Früchte in Schalen an den Wandpaneelen Bayt ad-Dahhan/ Funduq Qasr al-Mansuriyya, 18. Jahrhundert (© Rami Alafandi)

Istanbul, die damalige osmanische Hauptstadt, war der Treffpunkt von Künstlern, die all diese Motivstile hervorgebracht und entwickelt hatten. Die Beispiele aus Aleppo zeigen, wie eng diese zwei Städte miteinander verbunden waren. Obwohl die Architektur von Aleppo einen besonderen örtlichen Stil aufweist, der sich insbesondere im Steinmauerwerk und in den Steinverzierungen und der Gestaltung der Häuser zeigt, folgten die bemalten Holzdekorationen überraschenderweise den osmanischen Kunstrichtungen. Die Verbindung zwischen Istanbul und Aleppo wurde ermöglicht durch die Künstler, die reisten, um in anderen Städten des Osmanischen Reiches Kunsthandwerk zu produzieren, und die Aleppiner, insbesondere Händler, die den Kunstrichtungen des Osmanischen Reiches während ihrer Reisen nach und ihrer Besuche in Istanbul und anderen osmanischen Städten ausgesetzt waren. Aus diesem Kulturaustausch ergab sich eine Fülle von Motiven, die die prächtigen Holztäfelungen zierten und mit großer Herzlichkeit den Weg ins aleppinische Haus fanden. 


Weitere Artikel und Interviews aus der Serie ‘Ajami – Geschichten über ein Handwerk:

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Von Palmyra nach Istanbul

von Hasan Ali

Hasan Ali lädt uns ein, Palmyra/Tadmor aus einer lokalen Perspektive zu entdecken. Er erinnert sich an die Abenteuer der Kindheit und die Aussagen der Älteren, um persönliche Landkarten kultureller Bedeutungen und sozialer Werte zu entwerfen. Als Archäologe aus Palmyra war Hasan Ali von der Zerstörung, der Plünderung und dem Vandalismus des Kulturerbes in seiner Stadt so betroffen, dass er begann, im Rahmen eines Dokumentationsprojekts die Erinnerungen der ehemaligen Bewohner Palmyras zu sammeln.

„Die Freunde meiner Kindheit, mit denen ich hah (ein traditionelles Jungenspiel) gespielt habe, sind weggegangen“ – so lautet ein lokales Sprichwort, das die Nostalgie nach der Unschuld der Kindheit und die Sehnsucht nach der Vertrautheit des Heimatortes ausdrückt. Diese Heimat zu verlieren, war  unsere Erfahrung als Einwohner von Palmyra/Tadmur in den letzten Jahren. Seitdem können wir seine Bedeutung viel besser verstehen, da wir selbst Fluchterfahrungen machen mussten. In der Tat verließen alle meine ehemaligen Nachbarskinder unsere Heimatstadt und verteilten sich über den Globus. Voneinander getrennt strandeten wir in verschiedenen Ländern, und Palmyra/Tadmur blieb allein zurück – es lag in Trümmern, und außer dem Militär war kaum jemand übrig geblieben.

Von Palmyra nach Istanbul
Das traditionelle hah-Spiel wird nur von Jungen gespielt, wobei lange und kurze Stöcke zum Einsatz kommen. Es wird vor allem auf dem Land gespielt | Das Bild findet sich auf Facebook unter https://www.facebook.com/adnanjumaalahmad/posts/188818506089438/

In Tadmur spielten meine Kameraden und ich entweder in den Straßen des zentralen Viertels in der Nähe des Sportplatzes von Ash-Shabiba (einer staatlichen Organisation, die sich an Jugendliche wendet) oder in der Nähe der Ostmauer des berüchtigten Gefängnisses von Tadmur; wir fürchteten uns davor, den Mauern zu nahe zu kommen, ohne uns Gedanken darüber zu machen, dass dort Menschen eingesperrt waren. Für das hah-Spiel sammelten wir mehrere kurze Stöcke und einen langen Stock, die meist von Oliven- oder Granatapfelbäumen stammten. Wir steckten die kurzen Stöcke (25 bis 30 cm) an den Rand des Bürgersteigs oder direkt in die Erde und schlugen sie dann mit dem langen Stock (manchmal 100 cm lang), so dass der kurze Stock so weit wie möglich flog. Wer ihn am weitesten fliegen lassen konnte, war der Gewinner.

Wenn Abud Shehab, einer meiner Freunde, Hunger verspürte, lief er nach Hause, um sich ein bestrichenes Fladenbrot zu rollen. Dessen Belag bestand entweder aus labne, einer sehr dickflüssigen Joghurtmasse, oder aus semne (Butterfett) mit einer hausgemachten Gewürzmischung namens zaʿtar (Thymian) darauf. Semne wird mithilfe des jiff zubereitet, einem Beutel aus Ziegenbalg, in dem Rohmilch lange geschüttelt wird, damit sich Butter absetzt, aus der später Butterfett gewonnen wird. Einen solchen jiff benutzen die Beduinen des Berg Al-ʿAmour (auch Abu Rajmayn genannt) ca. 50 km nördlich von Tadmur, um Produkte aus der Milch von Schafen und Ziegen herzustellen. Das Brot stammte aus der damals modernen automatischen Bäckerei De Gaulle oder der eher manuell arbeitenden Bäckerei Sulayman. Wir liefen hinter Abud her, um auch ein solches gerolltes Sandwich zu bekommen, das seine Mutter, Tante Hind, dann liebevoll für uns zubereitete.

Palmyra/Tadmor:
Im Arabischen bezieht sich der Name Tadmur sowohl auf die antike als auch auf die moderne Stadt. Dagegen wird im Deutschen und Englischen nur die antike Stadt Palmyra genannt und die moderne Stadt Tadmur wird davon unterschieden. Ein Karawanenstützpunkt in der syrischen Wüste namens Tadmur wird bereits in altorientalischen Quellen des 2. Jt. v. Chr. genannt. Als Ende der 1920er Jahre unter französischer Mandatsherrschaft nördlich der antiken Ruinen eine neue Stadt gebaut wurde, führte der neue Ort den Namen Tadmur weiter. Vor dem Einmarsch des IS im Jahr 2015 lebten in der heutigen Stadt Tadmur etwa 80 000 Bewohner.

Die Afqa-Quelle und die Oasenwirtschaft

Vor allem an den heißen Tagen warteten wir sehnsüchtig auf die Schulferien, um mit unserer Familie oder mit Freunden in den Becken mit schwefelhaltigem Wasser zu schwimmen, die von der Afqa-Quelle gespeist werden. Diese ist die Quelle des Lebens von Palmyra/Tadmor, der Grund für die Existenz des Ortes, da das Afqa-Wasser die Bewässerung der Oase sicherte. Das Quellwasser fließt in einer Kurve zum Palmenhain und durchläuft einige Erweiterungsbecken. In dem etwa zwei Meter tiefen Männerbecken (hammam az-zilim) schwammen früher die Männer. In einem der Interviews mit in der Türkei lebenden Einwohnern Tadmurs beschrieb Riyad al-Jarallah, ein ehemaliger Beamter der regionalen Wasserverwaltung, das hammam az-zilim als einen offenen Bereich, um den herum Terrassen aus Kalkstein zum Baden und zur Erholung in den Fels gehauen wurden. Während des französischen Mandats wurde darüber ein Schwimmbad (ca. 7 x 20 m) errichtet, das beim Bau des Méridien-Hotels 1985 abgerissen wurde. Das Afqa-Wasser floss auch zu einer in den 1920er Jahren errichteten Mühle, in der mithilfe der Wasserkraft Getreide gemahlen wurde. Die Mühle wurde in den 1950er Jahren entfernt, aber ein Raum davon blieb bestehen und wurde als Schwimmbecken für Frauen genutzt.

Von Palmyra nach Istanbul
Afqa Quellbecken mit seinem schwefelhaltigen Wasser, das aus unterirdischen Quellen im unweit gelegenen Berg dorthin geleitet wird, 1990 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Josef Härle (CC-BY-NC-SA)
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Das ausgetrocknete Afqa-Quellbecken im Jahr 2002 | Foto Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Als Kinder liebten wir es, im so genannten Shari‘a -Becken zu schwimmen, wo das Wasser nur seicht war. Der Name „Shari‘a -Becken“ erinnert an eine Shari‘a-Schule, die Shaykh Muhammad Shams al-Din (bekannt als Shaykh Shakas) dort im 16. Jahrhundert gegründet hatte. Die Schule ist seit langem verschwunden, aber da der Pool ein Verteilungsbecken für die Hauptkanäle ist, die die Oase bewässern, hat er bis heute überlebt.

Die Afqa-Quelle versiegte 1994 aufgrund von Bohrungen und Explosionen für den Bau des Méridien-Hotels in der Nähe der felsigen Höhle, aus dem das Quellwasser floss. Durch diese Explosionen wurde das Quellgestein beschädigt. Im Jahr 2021 hörte ich, dass die Afqa-Quelle wieder Wasser spendet.

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Das sogenannte Shari‘a -Becken, von dem aus das kostbare Nass in Bewässerungskanäle der Oase verteilt wird, 2011 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto Detlef Eckelmann (CC-BY-NC-ND) 
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Immer weniger Palmenhaine in der Oase werden noch gepflegt, der Wüstensand verschüttet langsam die Bäume | Foto Hasan Ali

Nach dem Schwimmen zogen wir uns an und liefen durch die Oasenhaine mit ihren unzähligen Palmen, Obst- und Olivenbäumen. Der Gang durch die Gassen der Obsthaine war nicht von dieser Welt und lässt sich nicht so leicht aus dem Gedächtnis löschen, da er so viele schöne Gefühle mit sich bringt. Die Wege zwischen den Lehmwänden waren manchmal zwei Meter breit und wurden von Kanälen gesäumt, an denen Bewässerungsmotoren (deren Namen wohl Andrea oder Black Stone waren) betrieben wurden. Ihre Geräusche klingen bis heute in den Ohren eines jeden Tadmuri. Ich erinnere mich, dass einige Wege wegen der Dichte der Blätter von Palmen, Oliven- und Granatapfelbäumen nicht von der Sonne beschienen wurden. Die Menschen passierten diese Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit einem Eselskarren oder einer dreirädrigen Draisine, die wir tartayra nennen. In Tadmur kannten sich die Leute, tauschten Witze aus und boten sich gegenseitig Datteln und Granatäpfel an, die sie gepflückt hatten und auf dem Markt zum Verkauf anbieten wollten.

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Verteilerstelle der Bewässerungskanäle in der Oase | Foto Hasan Ali
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Ein motorisiertes Dreirad, im lokalen Dialekt tartayra genannt, ist ein übliches Verkehrsmittel | Foto Hasan Ali

Die Tadmuris und ihre neue Stadt

Die Bewohner des ursprünglichen Dorfes Tadmur, das inmitten der Ruinen und auch im Bel-Tempel lag, wurden von der französischen Mandatsverwaltung gezwungen, in eine neu errichtete Stadt nördlich der Oasenhaine zu ziehen. Obwohl die neue Stätte den lokalen Namen adh-Dhahira trug (der von älteren Einwohnern immer noch verwendet wird), erhielt die neue Stadt den historischen Namen Tadmur. Der ehemalige Leiter des technischen Büros der Stadtverwaltung von Palmyra, der Architekt Ahmed Al-Agha, erläuterte: „Der Grund für die Umsiedlung der Bewohner aus dem alten Dorf nach Tadmur-adh-Dhahira war, dass die französischen Besatzungsbehörden den Bel-Tempel und die Denkmäler der historischen Stadt Palmyra freilegen wollten. Daher beschlossen sie 1928, dass die Bewohner ihre Häuser in den Ruinen Palmyras verlassen müssten, da sie abgerissen werden sollten. Sie sollten sich am neuen Ort ansiedeln, dessen Parzellierung und das Straßennetz von den französischen Behörden festgelegt waren.“

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Die moderne Stadt Tadmur im Jahre 1995 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

In meiner Jugend, als ich noch zur Schule ging, warteten meine Freunde und ich immer auf das Ende der Schulzeit, um mit dem Fahrrad zum archäologischen Gelände zu fahren und dort Fußball zu spielen oder zu laufen. Einmal sauste ich mit dem Fahrrad auf einem Trampelpfad in Richtung der nördlichen Gräber und des Diokletianlagers den steilen Burghügel hinunter. Ein Freund saß hinter mir, aber plötzlich spürte ich, dass das Fahrrad viel leichter geworden war. Mein Freund war herunter gefallen! Zum Glück hatte er nur oberflächliche Wunden, aber er erinnert mich bis heute an diesen Unfall.

Palmyras Ruinen

Manchmal saßen wir auch auf dem Dach eines der Grabtürme. Damals träumte ich von meiner Zukunft als Archäologe und den großartigen Büchern, die ich über die antike Geschichte der Gebäude um mich herum schreiben würde. Ich stellte mir vor, wie ich die weitläufigen Ruinen wieder so herrichten würde, dass sie wie zur Zeit unserer Vorfahren Odaenathus und seiner Frau Zenobia aussahen, und dass wir modernen Tadmuri-Bewohner darin leben könnten. Nach einigen Jahren verwirklichte ich meinen Traum, Archäologie zu studieren, und machte meinen Abschluss an der Universität Damaskus. Von 2007 bis 2015 arbeitete ich bei der Direktion für Altertümer und Museen in Palmyra. In jener Zeit liefen meine Kollegen Hassan, Muhammad, Najem und ich manchmal am späten Nachmittag den Festungshügel von Qalʿat Ibn Maʿn hinauf, um die Schatten des Sonnenuntergangs zu genießen, die die archäologischen Monumente abends in ein magisches Violett tauchten. Auch Touristen klettern gerne auf den Hügel, um die Schönheit dieser Tageszeit zu genießen.

Von Palmyra nach Istanbul
Jungen spielen Fußball vor der Kulisse der Ruinen von Palmyra – Blick von Norden mit den Palmyra-Ketten im Hintergrund  |  Foto: Hasan Ali

Damals war die Nacht in Palmyra ereignisreicher als der Tag. Das Sommerwetter wird in der Nacht so sanft und die Brise kühl und frisch. Familien und Freunde trafen sich spätabends oder nachts in den Höfen der Häuser. Im Winter genossen die Männer die Gastfreundschaft des Gästehauses (madafa oder manazil – wie wir Einheimischen es nennen); sie versammelten sich um die Wärme des Diesel- oder Holzofens, der soba.

Krise, die Invasion von ISIS und unsere Flucht

Meine Träume von Palmyra verblassten mit dem Ausbruch des Konflikts 2011/12, der später die Vertreibung von 60 % der Bevölkerung zur Folge hatte. In dieser Zeit suchten wir nach Sicherheit für unsere Familien und einem ausreichenden Einkommen zum Überleben, also nahm ich einen zweiten Job in einem Textilgeschäft an.

Von Palmyra nach Istanbul
Die Oase umgrenzt an drei Seiten den Bel-Tempel, 1956 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Als ISIS 2015 in Palmyra/Tadmur einmarschierte, wurde das Leben zur Hölle. Wir mussten aus der geliebten Stadt fliehen, um dem unvermeidlichen Tod zu entgehen. Ich floh mit meiner Familie zunächst nach Gaziantep in der Türkei, später nach Istanbul. In dem neuen Land zeigte sich das Leid in verschiedenen Schattierungen. Wir mussten Türkisch lernen und die dortigen Gewohnheiten und Lebensweisen akzeptieren. Zunächst arbeitete ich als Lehrer für syrische Geschichte und als Trainer für syrisches Kunsthandwerk für syrische Flüchtlingskinder. Im Jahr 2016 konnte ich mit Unterstützung des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul und gefördert von der deutschen Gerda Henkel Stiftung als Archäologe und später als Chronist für meine Heimatstadt arbeiten. Ich begann meine neue Arbeit mit der Dokumentation wesentlicher Aspekte des Erbes von Tadmur und seiner Umgebung sowie der Lebensweise der Menschen dort. Ich sammle Erinnerungen an wichtige Ereignisse wie den Umzug aus dem alten Dorf in die neue Stadt und an die Zeiten der Machtschwankungen im 20. und 21. Jahrhundert, da ich es für notwendig halte, die Gemeinschaft der Tadmuris wieder zu verbinden, das Wissen über die moderne Geschichte Palmyras zu schützen und den Menschen in der Diaspora eine Stimme zu geben. Im Jahr 2020 haben wir „Palmyrene voices“ initiiert und ein Einkommensprojekt mit traditionellen Handwerksprodukten aus Tadmur gestartet.

Nach meiner Einschätzung ist die Heimkehr der Einwohner von Tadmur für die nächste Zukunft eher unwahrscheinlich. Aber wir wollen zurückkehren, um zusammen mit Experten den Erhalt des historischen Palmyra auch für zukünftige Generationen zu sichern. Es muss ein Weg gefunden werden, das Wissen und das Erbe zu bewahren, damit es von den Großeltern an die Enkel weitergegeben werden kann. Der beste Weg ist, die durch den massiven Exodus der Bewohner von Tadmur entstandene Lücke zu schließen, indem das kollektive Gedächtnis der Palmyra-Flüchtlinge in der Diaspora aufgezeichnet und analysiert wird, so dass sie ihre Geschichten und Erinnerungen mit ihren Kindern und der ganzen Welt teilen können. Unsere Hoffnung bleibt, dass wir eines Tages in unsere Heimat Tadmur/Palmyra zurückkehren können und auch künftige Generationen diese Hoffnung bewahren werden.


Titelbild: Blick auf das historische Palmyra mit der modernen Stadt Tadmur im Hintergrund und den Ausläufern der Oase auf der westlichen Seite, 2002 | Foto Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Hasan Ali: Hasan Ali ist ein palmyrenischer Archäologe und Historiker mit einem Bachelor der Universität Damaskus. Mit Unterstützung des Deutschen Archäologischen Instituts Istanbul dokumentiert er das kulturelle Erbe Palmyras und seiner Umgebung im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart. https://palmyrenevoices.org/

Brüderliche Hilfe durch die DDR – Schienenmodernisierung bei der syrischen Bahn

von Manfred Strauß

Brüderliche Hilfe durch die DDR – Schienenmodernisierung bei der syrischen Bahn
Auf einer Eisenbahnbrücke von Aleppo nach Latakia: Der Zug besteht aus einer sowjetischen Lokomotive und DDR-Waggons | Reinhard Dietrich, 2007 (CC-BY-SA)

Den meisten Syrern ist die syrische Staatsbahn (CFS) nur dem Namen nach bekannt. Wer reisen will, nimmt lieber den Bus, um schneller ans Ziel zu kommen. Dennoch besitzt die syrische Bahn gut ausgestattete, bequeme Personen- und Schlafwaggons. Auf einem ausgedehnten Schienennetz rollten (bis 2011/12) Personen- und Güterzüge quer durch das Land. Damit die Züge durchgehend problemlos fahren können, muss das Schienennetz regelmäßig instand gehalten werden. In den späten 1970er Jahren war ein gewisser Modernisierungsstau aufgelaufen und Syrien bat die damalige DDR um technische Unterstützung. 1980 wurde zwischen der Staatsbahn Syriens und dem Ministerium für Außenhandel der DDR  ein Staatsvertrag geschlossen, bei dem es um Stellwerksanlagen, Schieneninstandhaltung und allgemeine technische Modernisierung ging.

Bahnstreckenentwicklung in Syrien
Von der historischen Bagdadbahn, die ab 1903 gebaut wurde, liegen nur kurze Abschnitte in Syrien: im Westen der 1912 fertig gestellte Abzweig nach Aleppo, und im Osten ein kurzes Teilstück zwischen Qamishli an der türkischen und Al-Ya’rubiyya an der irakischen Grenze.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden die beiden Bahnstrecken Damaskus – Mzayrib und Damaskus – Beirut als Schmalspurbahnen gebaut. Wohl um den Anschluss an diese Strecken zu gewährleisten begann das Osmanische Reich im Jahr 1900 mit dem Bau der Hijaz-Bahn, um Pilger von Damaskus zu den heiligen Stätten zu bringen und baute sie mit schmaler Spurweite. Zu dessen Schienennetz gehörte auch ein Abzweig zum Mittelmeerhafen Haifa, der Anschluss an die bestehende Bahnstrecke Hama – Beirut und später der Abzweig Dar’a – Bosra.
Die unterschiedlichen Spurweiten erschwerten die Entwicklung eines syrischen Eisenbahnnetzes. Die 1956 gegründete syrische Staatsbahn “Chemins de fer Syriens“ (CFS) begann ein normalbreites Schienennetz für das gesamte Land aufzubauen. Als wichtigste Verbindungen wurden ab 1969 gebaut: von Aleppo zum Hafen Latakia und im Osten nach Raqqa, mit Fortsetzungen nach Dayr az-Zawr und Qamishli, um sie mit den Schienen der Bagdadbahn zu verbinden. Die 1983-85 gebaute Strecke von Damaskus nach Aleppo war bis 2011/12 die meistbefahrene Route. Vor Juli 2012 bestanden internationale Verbindungen in die Türkei und nach Jordanien.
Größere wirtschaftliche Bedeutung als der Personenverkehr hat der syrische Güterverkehr.

Brüderliche Hilfe durch die DDR – Schienenmodernisierung bei der syrischen Bahn
Diese Karte zeigt, in welchen Jahren die jeweilige Streckenmodernisierung erfolgte | http://www.syrische-eisenbahn.de/SyrianRailways/Pictures/CFS-Map-Zukunft-Deutsch.jpg

Im Rahmen dieses internationalen Vertrages arbeitete ich von 1980 bis 1984 in Homs, wo wir auch als Familie lebten. Die Bahnanlagen von Homs sind ein wichtiges Drehkreuz der Nordsüd- als auch Ostwest-Bahntrassen, wobei letztere insbesondere den Güterverkehr zwischen dem Landesinneren und den Häfen Tartus und Latakia betreffen. Im Folgenden werde ich über meine Arbeit berichten, die ich im Auftrag meines Betriebes, des Werks für Signal- und Sicherungstechnik (WSSB in Berlin-Ost), durchführte.

Wir waren für 48 Relaisstellwerke im automatischen Bahnbetrieb, 25 vollautomatische Schrankenanlagen, Verlegung von Signal- und Fernmeldekabeln, sowie eine automatische Telefonzentrale im Stellwerk Homs II zuständig. Der Baustab, dem wir zugeteilt waren, befand sich in der Stadt Homs, wo sich alle Aktivitäten der Verwaltung, Koordinierung und Einstellung der Arbeitskräfte usw. bündelten. Unsere praktischen Arbeiten fanden vor allem auf dem Materiallagergelände samt Fuhrpark in der Nähe des Stellwerks Homs II statt. Es lag bei dem Dorf Baba Amr und verfügte auch über ein Anschlussgleis zum unweit liegenden Güterbahnhof Homs II.

Hier war ich als Lager- und Fuhrparkleiter tätig und gleichzeitig verantwortlich für die Werkstatt und die einheimischen Arbeitskräfte wie Maler, Kraftfahrer und Lagerarbeiter.

Homs railway depot, place for pre-assembly
Vormontage von Streckensignalen russischer Bauart | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Alle Vorarbeiten wie Signale streichen, Batterien vorladen oder Ähnliches wurden auf dem Gelände des Lagers durchgeführt. Da die vorhandenen Streckensignale russischer Bauart waren, mussten wir deren Ersatzteile importieren und auf dem Lagervorplatz vormontieren. Alle Betonfundamente für Signale und Schrankenantriebe wurden in Baba Amr hergestellt und auf die Baustelle geliefert, wodurch der vertraglich vereinbarte Anteil von einheimischer Wertschöpfung gewährleistet  wurde.

Gewohnt haben wir in staatlichen Mietwohnungen oder bei privaten Vermietern. Die Wohnungseinrichtungen wurden von unserem Heimatbetrieb WSSB gestellt, so dass jeder Kollege die gleichen Möbel erhielt. Transportiert in 20-Fuß Containern befand sich darin vom kleinen Löffel bis zur Schrankwand alles, was wir vor Ort evtl. benötigen könnten.

Unser Fuhrpark umfasste 6 PKW, ca. 30 Jeeps, einen Kleinbus, einen Messwagen für Kabelverlegung, einen Autodrehkran, einen LKW, einen Tieflader und einen Gleiskraftwagen (SKL).

Vehicles in our fleet
Fahrzeuge unseres Fuhrparks | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Der Blitzeinschlag

Wir hatten zwar ein Anschlussgleis, welches aber so gut wie nicht genutzt wurde, da alle Materialien über die Häfen Tartus und Latakia mit anschließendem LKW-Transport zu uns gebracht wurden.

Während der normale Alltag geregelt ablief, erinnere ich mich an eine außergewöhnlich gefährliche Situation, als eine Lieferung von Kabeltrommeln aus dem Hafen von Tartus am Nachmittag des 24.12.1981 im Lagergelände in Homs eintraf. Normalerweise war vereinbart, Lieferungen ein bis zwei Tage vorher anzukündigen. Diesmal war es anders und zudem musste der Tieflader mit 24 Trommeln sofort entladen werden! Ich suchte mir einen freiwilligen Helfer, der die Kabeltrommeln hebefähig machen musste. Ein anderer musste den Autodrehkran bedienen – das war ich.

Homs, railway depot
Kabeltrommeln und Container auf dem Lagergelände | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Plötzlich zog ein Gewitter auf. Wir hatten gerade mal drei Trommeln entladen und die vierte hing am Haken – da schlug ein Blitz in die Kranspitze ein. Der Schreck war gewaltig, aber niemandem war etwas geschehen. Nach kurzer Pause konnten wir den LKW weiter entladen und am Abend wohlbehalten zuhause das Weihnachtsfest feiern.

Eisenbahner-Alltag

Vertraglich waren sieben Streckenabschnitte vereinbart: Sektion I   Homs – Mhin, Sektion II Mhin – Al Sharkia, Sektion III Homs – Tall Kalakh, Sektion IV Tall Kalakh – Tartus, Sektion V Homs – Hama, Sektion VI Hama – Aleppo, Sektion VII Mhin – Damaskus.

Wir begannen in den Sektionen als Erstes mit der Kabelverlegung. Es wurden ca. 650 km Streckenkabel in verschiedene Untergründe eingebracht. Teilweise durch felsigem oder sandigem Untergrund oder durch Bäche mussten die Kabel verlegt werden, um die Kommunikation mit den verschiedenen Stellwerken zu gewährleisten. Diese Arbeiten wurden von einheimischen Subunternehmen erledigt, ebenso die Verkabelung eines Bahnhofes und der Schrankenanlagen.

Im nächsten Schritt stellten wir die Außenanlagen fertig: Montage von Gleisanschlusskästen, Anbau von Weichenantrieben, Setzen von Fundamenten, Aufstellen von Signalen sowie Fertigstellung der vollautomatischen Schrankenanlagen.

Das Schienennetz Syriens ist bis heute weitgehend eingleisig, was bedeutet, dass sich entgegenkommende Züge immer nur an Bahnhöfen oder an Ausweichstellen aneinander vorbeifahren können. Daher ist eine Koordination zwischen Stellwerken und Zugführern enorm wichtig. Die Arbeiten mit dem Arbeitszug waren in besonderer Weise auf rechtzeitige telefonische Absprachen angewiesen. Dennoch passierte es, dass der Fahrdienstleiter im Bahnhof Homs einen Güterzug in Richtung Shanshar losschickte und wir gleichzeitig mit unserem Arbeitszug, d.h. mit Kran und Signalen, von Shanshar in Richtung Homs unterwegs waren. Nur durch das umsichtige Handeln beider Zugführer konnte eine Kollision verhindert werden!!! Man hatte schlicht vergessen anzurufen!

Assembly of a siding box by Syrian workers at the railway track Homs - Hama
Montage eines Gleisanschlusskastens durch syrische Fachkräfte | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Brüderliche Hilfe durch die DDR – Schienenmodernisierung bei der syrischen Bahn
Eingleisen des Gleiskraftwagens (SKL) mithilfe eines  Kran-LKWs auf einem Waggon  | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND
At the station of Shanshar
Am Bahnhof in  Shanshar | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Schwierigkeiten bereiteten uns gelegentlich die Lokführer, die es nicht gewohnt waren, am roten Signal zu warten und dadurch oftmals einen mechanischen Schaden an der Gleisweiche verursachten.

Nach Fertigstellung jeder Sektion wurde eine kleine Feier mit allen beteiligten Deutschen und Syrern ausgerichtet – denn wer zusammen arbeitet, kann auch zusammen feiern. Die Zusammenarbeit mit den syrischen Kollegen war ausgesprochen gut und sehr freundschaftlich. Einige Wenige hatten eine elektrotechnische Ausbildung, die natürlich von Vorteil war, sodass sie teilweise sehr selbständig arbeiten konnten.

Zu meinen Tätigkeiten gehörte es, syrische Kollegen in unserer Werkstatt und bei der Montage anzuleiten. Der Wissensdurst der Syrer war enorm, auf jede Frage gab es ausführliche Diskussionen, die dazu beitrugen, dass sich Kenntnisse verfestigten und sie sich weiter qualifizierten und Arbeiten selbständig ausführten. Wir lernten voneinander, die syrischen Mitarbeiter eigneten sich Wissen über deutsche Eisenbahntechniken an und benutzten deutsche Worte, ich erfuhr mehr von den Gepflogenheiten, der Kultur und Sprache meiner syrischen Kollegen.

Sehr gute Kontakte hatten wir auch zu Werkstätten im Industriegebiet von Homs. Dort wurden unsere Fahrzeuge wenn nötig repariert.

Eines Tages musste ich mit meinem Dienstwagen zur Peugeot-Werkstatt, um Spurstangenköpfe auswechseln zu lassen. Abdul, der Chef der Werkstatt, meinte, wir müssten noch eine Probefahrt machen und so verließen wir das Industriegebiet in Richtung Hama. Bei ca. 100 Stundenkilometer löste er das Lenkrad, hob es ab und stellte es neu ein ! Bange Sekunden vergingen, aber es ging alles gut.

Neben unserer Arbeit gab es auch die Möglichkeit das Land zu bereisen, wovon wir regen Gebrauch machten. Da die Hafenstadt Tartus nicht weit von Homs entfernt war, konnten wir an manchem Freitag, dem arbeitsfreien Tag, ein Bad im Mittelmeer genießen.

Im August 1984 beendete ich meinen Auslandseinsatz und flog mit meiner Frau und unserer Tochter, die inzwischen 5 Jahre alt war, zurück in die Heimat. Es war ein sehr schwerer Abschied, da wir in Syrien vier glückliche Jahre verlebt und liebe Freunde gewonnen hatten.

Railway Depot Homs: Farewell photo with colleagues
Abschiedsfoto mit den syrischen Kollegen | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)
Busra, historical locomotive at Hijaz train station
Familie Strauß am heute nur noch selten genutzten Bahnhof Busra, um eine historische Dampflok zu bestaunen | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Auf Besuch in Syrien

Im Jahr 2000 haben wir uns mit Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen auf den Weg gemacht und eine private Reise von Aleppo über Idlib, Latakia, Tartus, Hama, Homs, Palmyra, Maalula, Damaskus und Bosra unternommen. Natürlich mit einem längerem Stopp an unserem alten Arbeitsplatz in Homs.

Railway Depot Homs, visit from former colleagues
Bahnbetriebswerk Homs, beim Besuch der ehemaligen Kollegen | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)

Hier wurden wir aufs Herzlichste begrüßt und mit einem Tee willkommen geheißen.

Unser ehemaliger Kraftfahrer Fawwas war mittlerweile der Lagerleiter und verwaltete alle Materialien.

Mithilfe unserer alten Fotos konnten wir unsere ehemaligen Vermieter ausfindig machen. Viele neue Gebäude waren errichtet worden und Homs hatte sich zum Positiven verändert. Bei der Vermieterfamilie war die Wiedersehensfreude ebenfalls groß. Sie wollten mit uns gleich nach Tartus in ihren Bungalow fahren, aber leider mussten wir ablehnen, denn am Abend ging es weiter nach Marmarita.

Brüderliche Hilfe durch die DDR – Schienenmodernisierung bei der syrischen Bahn
Ein moderner und komfortabler syrischer Personenzug im Jahr 2009  | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Titelbild: Beim Eingleisen eines Gleiskraftwagens (im Foto links) mithilfe eines Kran-LKWs auf einem Waggon war auch Körperkraft nötig | Manfred Strauß (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Manfred Strauß: Manfred Strauß lebte von 1980 bis 1984 zusammen mit seiner Familie in Homs, um zur Modernisierung des syrischen Eisenbahnsystems beizutragen. Diese vier Jahre in Syrien haben seine Sicht auf die Welt positiv beeinflusst.

Ezidisches Leben und Traditionen im Sinjargebirge – Interview mit zwei jungen Ezidinnen 

Die Eziden (oft auch als Jesiden bezeichnet) sind eine ethnisch-religiöse Gruppe, die hauptsächlich im Nordwesten des Irak, im Südosten der Türkei, im Norden und Nordosten Syriens, in Armenien und im Iran lebt. Das Hauptsiedlungsgebiet liegt in den Regionen Sinjar und Shaykhan im Nordwesten des Irak.

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Die ertragreiche Landwirtschaft auf terrassierten Feldern war schon im Rückgang begriffen, als dieses Foto vermutlich 1980 entstand | Museum for Islamic Art, photo: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)


Der Ezidismus ist eine monotheistische, synkretistische Religion, die ihre Wurzeln in einem vorzoroastrischen iranischen Glauben hat. Die Religion basiert auf der Überlieferung durch mündliche Traditionen. Ihr Hauptanbetungsort ist der Schrein von Shaykh ʿAdi ibn Musafir in Lalish im kurdischen Teil des Iraks.
Das Volk der Eziden wurde ausgegrenzt und in der Geschichte wiederholt religiös verfolgt.
Anne Mollenhauer traf die jungen Ezidinnen Basma Aldakhi und Sara Hassan zum Interview, die vor dem Einmarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ aus ihrer Heimat in der Sinjar-Region fliehen mussten.

Illustriert wird das Interview mit Fotografien des Geographen Eugen Wirth, die er 1953 auf einer langen Reise in den Jabal Sinjar aufgenommen hat. Sie stellen somit eine einzigartige Quelle für die verschwundene Welt der Eziden dar.

Anne: Wo haben Sie vor Ihrer Flucht gelebt?

Sara: Ich habe in der Sinjar Region gelebt, in Mujamma‘ Hittin, einer Collective Town.

Basma: Ich habe auch in der Sinjar Region, allerdings in Khana Sor, gelebt.

Ezidisches Leben und Traditionen im Sinjargebirge -                  Interview mit zwei jungen Ezidinnen 
Sara Hassan (vor dem Eingang zum Tempel von Shaykh ʿAdi in Lalish) | Fotorechte: Sara Hassan
Ezidisches Leben und Traditionen im Sinjargebirge -                  Interview mit zwei jungen Ezidinnen 
Basma Aldakhi (vor der Tempelanlage von Shaykh ʿAdi in Lalish sitzend) | Fotorechte: Basma Aldakhi 

Collective Towns 

Seit 1975 begann die irakische Regierung unter Saddam Hussein mit der Zerstörung kurdischer Dörfer und ihrer lokalen Identität, indem sie die Dorfbevölkerung zwang, in collective towns, den sogenannten Mujamma’at, zu leben. Unter dem Vorwand der Modernisierung und des Zugangs zu medizinischer Versorgung und Schulen mussten die historischen Dörfer aufgegeben werden. An den nördlichen und südlichen Ausläufern des Jabal Sinjar wurden 11 Kollektivorte gegründet, in denen die Eziden angesiedelt wurden.

Anne: Welche Sprache sprechen Sie untereinander?

Basma: Zumeist unseren regionalen Dialekt des Kurmandschi – die nordkurdische Sprache. In der Schule haben wir Arabisch gelernt, wir beherrschen es auch, genauso wie Badini, einen kurdischen Dialekt, den wir nach unserem Umzug nach Dohuk gelernt haben.

Anne: Also haben Sie in keinem traditionellen Dorf gelebt?

Basma: Nein, überhaupt nicht. Meine Eltern haben aber im Dorf Kursi gelebt.

Sara: Meine Eltern sind aus Bara nahe der syrischen Grenze.

Anne: Wie stellen Sie sich traditionelle Häuser vor?

Basma: In unserer Gegend sind traditionelle Häuser aus Stein und Lehm gebaut, jedes Haus bestand aus nur einem Zimmer, ähnlich wie bei Zelten. Für die Ernährung waren die Früchte, die in unserer Umgebung wuchsen, von lebenswichtiger Bedeutung. Deswegen war Trocknung von Obst und Gemüse eine sehr wichtige Sache für unsere Vorfahren.

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Ein traditionelles ezidisches Anwesen, wo im Sommer auf dem Dach geschlafen wird. Rechts im Bild erneuert eine Frau gerade den Verputz des Hauses, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Es gab eine ganz besondere Art von Häusern, nämlich solche, die in die Erde gebaut worden waren. Das Dach war auf gleicher Höhe wie der Erdboden, wodurch sie nicht leicht gesehen werden konnten. Zu Zeiten der Verfolgung eigneten sie sich hervorragend als Versteck.

Sara: In unserer Region nahe der syrischen Grenze gab es Menschen, die in aus Ziegenhaar hergestellten schwarzen Zelten lebten.

(Anne: Wie die Zelte der Beduinen? Sara: Genau.)

Dann gab es auch aus Stein und Lehm gebaute Häuser mit zwei Stockwerken und Keller, dort lebte nur die „Elite“. Ich habe von einem Mann gehört, der in nahe gelegenen Höhlen lebte, in einer wohnte er, eine andere nutzte er zum Weben, die dritte für Näharbeiten.

Anne: Gibt es Besonderheiten, an denen ein ezidisches Dorf zu erkennen ist?

Basma: Ein typisch ezidisches Haus hat eine niedrige Tür, so dass beim Eintritt der Kopf zu senken ist, dies dient als Zeichen von Respekt und Ehrfurcht vor Gott. Dabei darf die Türschwelle nicht betreten werden, der Eintritt muss mit einem Fuß außerhalb und einem innerhalb des Hauses geschehen, sodass die Schwelle selbst nicht berührt wird. Gleiches gilt für unsere Gebetsstätten, wie dem Lalish-Tempel, der wichtigsten Kultstätte unserer Religion. Und auch bei modernen Häusern mit normalen Türen gibt es noch immer manche, die bei Eintritt ihren Kopf neigen, als Zeichen der Gottesehrfurcht und als kulturelles Ritual.

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Ezid:innen mit ihrer traditionellen weißen Kleidung und rötlichen Bauchbinden auf dem Festival in Tell Keppe im Irak | Hamdi Hamad (CC BY-SA 4.0) 

Anne: Wie sieht die traditionelle Kleidung aus?

Basma: Bei der Hochzeit trägt die Braut ein weißes Kleid mit rotem Schal oder Tuch auf dem Kopf. Der Bräutigam hingegen hat sich in keiner besonderen Tracht zu kleiden, er trägt eher gewöhnliche Kleidung. Falls ein Todesfall in der Familie zur Zeit der Hochzeit passiert, so hat die Braut statt dieses festlichen Kleides einfache, bescheidene Kleidung als Zeichen der Trauer zu tragen.

Sara: Die Farbe unserer alltäglichen Kleidung ist weiß, für Männer wie für Frauen, hinzu kommt eine schwarze Weste. Manchmal finden sich rote Bänder als Verzierung. Männer tragen weiße lange Gewänder ohne Kragen. Wenn ich einen Mann sehe, der diese Art von Kleidung trägt, weiß ich sofort, dass er einer von uns ist.

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Das Tragen eines Turbans zeigt an, dass eine ezidische Frau verheiratet ist, 1953 | Museum for Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)
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Die traditionelle Kleidung der Eziden ist meist weiß. Kinder können auch bunt bekleidet sein: das kleine Mädchen trägt ein Käppchen mit Knöpfen und silbernen Anhängern, die es vor dem „bösen Blick“ schützen sollen, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Basma: Dann gibt es noch eine weitere Art von Kleidung, die die Fuqara, die Armen, tragen. Es ist die sogenannte Kharqa. Sie ist aus einem dunklen Braun-Schwarz, weil der Stoff mit Walnussschale gefärbt und auf Walnussbäumen bei Vollmond über Nacht zum Trocknen aufgehängt wird. Diese Fuqara sind die ehrlichsten und respektiertesten Menschen unserer Gesellschaft. Wir glauben daran, dass sie nur aufgrund ihres einfachen, lauteren Lebens diese Armut erreichen konnten, ein Leben, bei dem sie den Lehren unserer Religion Folge leisten und sich davon fernhalten konnten, jemals Leid zuzufügen.

Die Fuqara sind in unserer Gesellschaft diejenigen, denen der größte Respekt zuteil wird. Im Falle eines Streites mit Sara etwa würden wir einen Faqir zwischen uns richten lassen und sein Urteil befolgen. Ein jeder von uns sollte Entscheidungen und Handlungen des Faqirs folgen, auch wenn sie dabei jemanden schlagen sollten. Wenn ein Faqir etwas Falsches tut, nimmt die Gemeinschaft ihm das Kleid ab, was sehr beschämend ist. Wenn er Partei ergreift oder einer Seite mehr als der anderen Gewicht verleiht, sich also ungerecht verhält, so würde ihm auch seine Kleidung abgenommen werden, da er damit seine Neutralität aufgegeben hat. Aufgabe der Fuqara ist es, für die Reinigung und Dienste des Tempels aufzukommen, deswegen sind sie immer dort. Es gilt als segensvoll, die Ärmel ihrer Gewänder zu küssen.

Früher gab es viele Fuqara in unserer Gesellschaft, sie werden aber von Tag zu Tag weniger. Es scheint heutzutage schwierig zu sein, vorbildliches Verhalten an den Tag zu legen.

Anne: Wir hatten bereits erwähnt, dass Lalish die wichtigste Gebetsstätte der Eziden ist. Auf meinem Weg von Dohuk nach Erbil habe ich altorientalische Tells  mit ezidischen Schreinen auf der Kuppe gesehen. Besteht da ein Zusammenhang zwischen dem alten Mesopotamien und der ezidischen Religion? Oder haben Sie je vom altbabylonischen Gott Nabu gehört?

Sara: Ja, unsere Religion geht auf diese alten Zeiten zurück. Höchstes Heiligtum unserer Religion ist die Sonne, da sie Quelle jedes Lebens ist, zu ihr wird bei Sonnenauf- und -untergang gebetet. Anfang April findet das höchste Fest der Religion statt, der sogenannte Charshema Sor („roter Mittwoch“). Inwiefern aber die historischen Fundstätten mit  Wallfahrtsorten zusammenhängen, weiß ich nicht. Diese Bauten wurden an Orten gebaut, an denen Heilige gestorben oder gewirkt haben, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten. Davon ist der Lalish-Tempel die höchste Kultstätte der Eziden weltweit.

Basma: Ich habe nie vom Gott Nabu in unserer Religion gehört. Es kann aber sein, dass wir den Namen anders aussprechen und ich ihn deswegen nicht kennen.

Anne: Wie sieht der Tempel von Lalish aus? 

Basma: Ich zeige Ihnen Bilder. Diese konischen Faltkuppeln mit einer Kappe obenauf sind typisch für unsere Tempel.

Sara: Im Lalish finden wir das, wovon ich zuvor über die Häuser erzählt habe: niedrige Türen und hohe Türschwellen. Neben der Tür sehen wir das Bild einer schwarzen, in Stein gemeißelten Schlange. Manche küssen die Schlange vor Eintritt des Tempels, denn sie gilt als göttliches Geschöpf, das nicht getötet werden darf.

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Der Tempelbezirk von Lalish mit den drei konischen Faltkuppeln der Schreine von Shaykh ʿAdi, Shaykh Hasan and Shaykh Bakr, 2016 | Levi Clancy (CC BY-SA 4.0)
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Ezidischer Schrein am Abhang eines archäologischen Hügels südwestlich von Dohuk, 2022 | Anne Mollenhauer (CC-BY-NC-SA)

Anne: Gibt es denn viele Tempel hier in der Region?

Basma: Ja, so ziemlich jedes Dorf, jede Ortschaft hat ihren eigenen Tempel, Lalish ist aber der wichtigste auf der ganzen Welt.

Anne: Hat der IS viele dieser Tempel zerstört?

Sara: Ja, viele. Allein im Sinjar Gebirge wurden ca. 81 zerstörte Tempel gemeldet.

Anne: Werden Sie restauriert werden?

Sara: Einige Organisationen hatten mit dem Wiederaufbau begonnen, dann aber kam ein Beschluss, der besagte, die finanziellen Mittel seien nicht zur Restaurierung der Tempel, sondern für humanitäre Hilfe zu nutzen. Den Aufbau der Tempel könne man später angehen.

Basma: Viele Menschen leben noch immer in äußerst prekären Zuständen, es gibt viele Waisen und noch viele andere, die Unterstützung brauchen. Und doch gibt es einige, die trotzdem mit dem Wiederaufbau der Tempel beschäftigt sind.

Anne: Welche Rolle spielt die Musik während der religiösen Festlichkeiten?

Basma: Musik ist sehr wichtig, sämtliche unserer Kulthandlungen werden von Musik begleitet, und auch die Tänze haben einen religiösen Hintergrund. Viele Lieder und Geschichten, die von unserer Religion erzählen, werden in musikalischer Form übertragen. Es wird in einer alten Mundart gesungen, deswegen weiß ich nicht genau, was erzählt wird, aber ich kann – als Einblick – ein wenig von dieser Musik vorspielen.

Sara: Ich kenne eine Geschichte, da geht es um Verfolgung eines Menschen aus dem Süden, der  in den Norden floh. Es gibt viele verschiedene mündliche Überlieferungen über unsere Religion, schließlich leben Eziden heutzutage überall auf der Welt verstreut. Ich kenne noch einen Text über Hafiz Pasha, Statthalter der Osmanen in Mossul, der den Jabal Sinjar angriff und dabei ein Massaker an den Eziden anrichtete. In dieser Ballade wird vom Leid der Eziden erzählt.

Ezidisches Leben und Traditionen im Sinjargebirge -                  Interview mit zwei jungen Ezidinnen 
Kinder präsentieren die Glasperlen-Ziege auf ihrer Spindel, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)
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Beim abendlichen Musizieren: Dorfmusiker mit Langhalslaute (Tambura) bringt mithilfe von Kordel und Spindel die aus Glasperlen gefertigte kleine Ziege zum „Tanzen”, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA) 

Anne: Gibt es Märchen, die von Ihren Eltern und Großeltern erzählt werden?

Basma: Nein, diese Tradition haben wir nicht. Die alten Lieder, die wir haben, erzählen von unserer Geschichte, aber wie gesagt, es ist eine alte Sprache, die ich nicht verstehe. Ich müsste hierfür einen der Älteren fragen.

Anne: Gibt es etwas, dass Sie uns über Ihre Kultur erzählen möchten?

Sara: Wenn eine Familie gegründet wird, bekommt sie den Namen der Frau und nicht des Mannes, aus Wertschätzung ihr gegenüber. Eziden ist es nicht erlaubt, eine nicht-ezidische Person zu heiraten, falls doch, so gilt diese Person nicht mehr als ezidisch und wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Zu Zeiten Saddam Husseins gab es viele solcher Fälle, an denen Eziden zum Islam konvertiert sind, später aber wieder ezidisch werden wollten. Unsere religiösen Oberhäupter erlaubten dies nicht. Das ist einer der Gründe, weswegen wir heute eine Minderheit darstellen. Deshalb war es ein wichtiger Schritt unseres Oberhauptes Baba Sheikh, als er den vom IS verschleppten und vergewaltigten Frauen Rückkehr und Reintegration in die Gesellschaft erlaubte – ein wirklich beachtenswerter Schritt, den wir nie erwartet hätten.

Basma: Ich habe einmal jemanden aus dem Südirak getroffen. Er wunderte sich bei meinem Anblick und sagte: „Ich dachte, Eziden würden sich einmal alle 40 Jahre waschen!“ Ein anderer meinte zu mir, er würde keinem Eziden die Hand geben, wir seien schmutzig. Es wird so schlecht über uns gedacht, so viele Falschinformationen über Kultur und Religion der Eziden kursieren in der Welt. Ich wünschte, die Leute würden die Wahrheit – anstatt dieser verunglimpfenden Lügen – über uns erfahren.

Verfolgung unter der Herrschaft des IS

Das Ende des Irak-Kriegs im Jahr 2003 und die chaotische Situation des Syrien-Kriegs seit 2011 begünstigten den Aufstieg von Terrorgruppen wie al-Qaida und dem so genannten „Islamischen Staat“. Am 3. August 2014 fiel der „Islamische Staat“ in die Sinjar-Region ein, mit dem Ziel, die ezidische Bevölkerung auszurotten. Es kam zu einem Völkermord an den Eziden, mindestens 10.000 Menschen wurden getötet. Tausende konnten fliehen – meist nach Irakisch-Kurdistan, wo viele von ihnen noch immer in Flüchtlingslagern leben. Anderen gelang es, in europäische Länder zu fliehen, darunter vor allem nach Deutschland.

Anne: Haben Sie Kontakt zu ezidischen Gemeinschaften in Syrien oder anderen Teilen der Welt?

Sara: Ja, natürlich. Mein Vater hatte versucht, nach Syrien zu fliehen, als Saddam Hussein ihn verfolgte, aber er hat es nicht geschafft. Er wurde getötet, bevor ich geboren wurde.

Basma: Mein Vater hatte auch Kontakte in Syrien und ging dorthin, als wir bedroht waren. Er kehrte zurück, als die irakische Regierung eine Amnestie verkündete. Verwandte von mir sind immer noch in Syrien, zu denen wir  Kontakt haben.

Sara: Ich bin in einer internationalen Chat-Gruppe von ezidischen Frauen. Wenn wir über unsere Kultur sprechen, habe ich manchmal das Gefühl, dass sie über etwas ganz anderes sprechen als das, was ich als unsere Kultur kenne.

Ezidisches Leben und Traditionen im Sinjargebirge -                  Interview mit zwei jungen Ezidinnen 
Am Dorfbrunnen trifft man sich, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Ezidische Frauen und Mädchen

Über 6000 ezidische Frauen und Mädchen wurden von IS-Terroristen entführt, vergewaltigt und versklavt. Sie wurden gefangen genommen, um in den Haushalten der IS-Terroristen zu Diensten zu sein, und wurden oft weiterverkauft. Seit dem Fall des IS im Irak flohen diese Frauen und Mädchen; manche mussten sogar freigekauft werden, um in ihre Gemeinschaft zurückkehren zu können. Nadia Murad war eines der ehemaligen Opfer und widmete ihr Leben dem Kampf für ihre Leidensgenossinnen. Für ihren Einsatz erhielt sie 2018 den Friedensnobelpreis (gemeinsam mit Denis Mukwege).


Beitragsbild: Ezidisches Heiligtum: Mausoleum der Sitt Zaynab (aus der Zeit des Badr al-Din Lulum Atabeg von Mosul, 1233-1259) in Balad Sinjar an den Abhängen des Sinjar-Gebirgszuges, 1953 | Museum für Islamische Kunst, Foto: Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)

von Jean-Claude David

Das Ghazala-Haus – Projekt: Vom großen städtischen Anwesen  zum Museum der Erinnerung an Aleppo (Mathaf Zakirat Halab)

Im Jahre 2009, zwei Jahre vor Beginn des Krieges in Syrien, begannen Nachfahren der Familie Ghazala die Erinnerung an das Haus ihrer Vorfahren in Aleppo zu sammeln und das Wissen darüber vertiefen. Unsere Publikation “Alep: La maison Ghazalé – Histoire et devenirs” (Editions Parenthèses, 2019) ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Ziel war es dabei nicht nur, die historische Pracht dieser Architektur den Leserinnen und Lesern nahezubringen und eine Vorstellung von der Lebensqualität in ihm zu vermitteln, sondern auch eine wichtige Dokumentation zu erstellen. Die zahlreichen schriftlichen, gezeichneten und fotografischen Zeugnisse in unserem Buch stellen auch eine wichtige Grundlage für jede Restaurierung dar, die nach der fast vollständigen Zerstörung des Hauses durch den Krieg vorgenommen werden sollte. Als besonders kunstvolles Beispiel für ein großes Haus, das von jeder aleppinischen Familie – unabhängig von ihrer Konfession – hätte bewohnt sein können, war als Museum für aleppinische und syrische Geschichte und Identität ideal geeignet.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 1: Der große Innenhof während der Restaurierungsarbeiten 2009-2011 | François Cristofoli (CC BY-SA 4.0)

Wie es bis 2011 bestand, war das größtenteils im 17. und 18. Jahrhundert erbaute Haus Ghazala von christlichen Familien bewohnt. (Fig. 1, 4) Machte diese konfessionelle Verankerung das Haus zu einem besonderen Kulturerbe? Beschreibungen und Analysen mehrerer von Christen erbauter und bewohnter Häuser belegen, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen einem „christlichen“ und einem „muslimischen Haus“ aus derselben Zeit gab. Kultur – ob materiell oder immateriell – setzt sich aus unterschiedlichsten Elementen zusammen, darunter auch aus der Pluralität der Religionen. Die Häuser verkörpern nur ganz wenige spezielle Merkmale des Islam, des christlichen Glaubens oder der armenischen, katholischen, orthodoxen oder jüdischen Identität.

Ganz im Gegenteil: arabische Schrift und Literatur als gemeinsame Sprache und vorislamisches Erbe sind überall anzutreffen. Nicht-muslimische Elemente sind also keinesfalls fremd, sondern bilden den Nährboden für die kulturelle und historische Entwicklung eines gemeinsamen Erbes.

Wurde das Haus Ghazala während des Krieges angegriffen?

Im Jahre 2010 war das Ghazala-Haus ein historisches Denkmal und einstiger Ort regen Alltagslebens, jedoch seit über einem Jahrhundert unbewohnt. Der Bruch, der durch veränderte Lebensweisen seit Ende des 19. Jahrhunderts und durch die Übernahme von „Modernität“ hervorgerufen wurde, ging mit einer Ablehnung der Vergangenheit einher. In den 2000er Jahren wurde das Haus von der syrischen Generaldirektion für Altertümer und Museen übernommen, um dort ein Museum der Erinnerung an Aleppo einzurichten. Die Arbeiten begannen mit der Restaurierung des Gebäudes und es folgten Vorbereitungen für die auszustellenden Sammlungen.

Bayt Ghazala, courtyard - northern facade
Fig. 2: Blick zur Nordfassade des großen Innenhofes; dieser Teil des Hauses wurde am Ende des 17.Jahrhunderts erbaut, 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)

Doch schon im Herbst 2012, kurz nach Kriegsbeginn in Aleppo, geriet das Vorhaben eines Museums in Gefahr: die Frontlinie führte ganz dicht am Haus vorbei. Die erst kurz vorher restaurierten Holzvertäfelungen wurden abmontiert und weggebracht – vermutlich von organisierten und geschützten Plünderern. Drei Jahre lang, in denen sich die Frontlinie wenig bewegte, konnte das Haus einer Zerstörung entgehen. Doch 2015 verlagerte sich die Frontlinie und die Kämpfe um Rückeroberung der von Rebellen besetzten Gebiete intensivierten sich. Durch unterirdische Sprengungen, Mörserbeschuss, Luftangriffe und Bodenkämpfe wurde das an Denkmälern und touristischen Einrichtungen reiche Viertel Judayda stark in Mitleidenschaft gezogen. Einige Zerstörungen scheinen sich gezielt gegen touristische Investitionen, den öffentlichen Raum und alte muslimische Waqfs[1], das Museum für Volkstraditionen (Haus Ajiqbash), das künftige Museum der Erinnerung an Aleppo, Moscheen und einige Kirchen gerichtet zu haben. Verkehrsflächen, die einen klaren strategischen Wert haben, wurden bombardiert – gut sichtbare Orte waren bevorzugte Ziele.

Im Haus Ghazala ist der Iwan (zum Hof offener Raum) fast vollständig zerstört, ebenso ein Teil der Qaʿa (Empfangsraum) und des Hammams. (Fig. 3) Satellitenbilder belegen, dass die meisten Schäden in Haus und Nachbarschaft vor August 2015 entstanden sind. Im Jahr 2017 (Fig. 1) waren nur noch ein Teil des Anwesens und der geschnitzte Dekor von West-, Nord- und Ostfassade erhalten. 

The courtyard, view towards the east, after the destruction
Fig. 3: Der große Hof (Blickrichtung nach Süden) nach den Zerstörungen durch die Schlacht um Aleppo – mit dem Iwan, der in Trümmern liegt, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Eine widersprüchliche Haltung zum Kulturerbe: teils beansprucht, teils ignoriert oder abgelehnt, vor allem aber geplündert und durch den Krieg zerstört

Bereits vor dem Krieg waren die Spuren der überlieferten urbanen Lebensweise, die in der Stadt diffus verteilt und mit neuen Praktiken in neuen Architekturen verwoben waren, schwer lesbar geworden; der Krieg hat diese Schwierigkeit noch verstärkt. Durch ihn wurden der Verlust von kulturellem Erbe und die Zerstörung von traditionellem Umfeld nur umso deutlicher. Denkmäler verschwanden, Häuser wurden geplündert, verbrannt, gesprengt oder bombardiert – ebenso wie die Suqs und Tausende anderer historischer Gebäude. Dies führte zum Verlust der historischen Kultur, die bereits zuvor durch den Tourismus verändert worden war oder auch als rückwärtsgewandt gegolten hatte.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 4: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im östlichen Nebenraum des Iwans („qubba“) aus dem 17. Jahrhundert; die Oberflächen sind gesäubert und restauriert, vor 2011  | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
Bayt Ghazala, ʿajami wall panels decorating the red hall (qaʿa)
Fig. 5: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im Roten Salon (neben dem Eingangsraum), 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 6: Eine eher touristische Infrastruktur mit Restaurants/Hotels in traditionellen Häusern ebenso wie Läden, hatte sich vor dem Krieg gerade auch in Judayda entwickelt, 2017 | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)

Der Krieg hat einige Menschen dazu gebracht, ihre Sicht auf die Vergangenheit radikal zu verändern. Vor dem Konflikt stand bei Entscheidungen über die Ausweisung von Denkmälern oder Stadtgebieten die touristische Aufwertung und die westliche Perspektive im Vordergrund.  Danach wurde dieser Blick von außen in Frage gestellt und stattdessen nach Werten gesucht, die als authentischer wahrgenommen wurden und in der arabischen und muslimischen Kultur verwurzelt waren. Die Beziehung zum Erbe wurde auch zweideutiger: sie bewegte sich zwischen dem Anspruch auf Identität und dem Wunsch, Investitionen zu tätigen, indem das Erbe an Bauträger verkauft wird. Einige unter den Rebellen sahen diese Form der Inwertsetzung von kulturellem Erbe kritisch. Die Zerstörung des Erbes könnte Ausdruck einer Ablehnung des Westens und des Wunsches sein, eine Form des Eurozentrismus zu liquidieren, die über die touristische Inwertsetzung lief. (Fig. 6)

Das Museum der Erinnerung von Aleppo war ein notwendiges Projekt, um die Aleppiner dazu zu bewegen, die Vergangenheit ihrer Stadt anzuerkennen – jenseits der propagandistischen Schulklischees oder der Predigten der Moscheen. Die Zerstörung dieses Museums, das sich erst im Aufbau befand, hat zweifellos eine starke ideologische und politische Bedeutung: Es ist eine Art Ablehnung der Geschichte und ihrer Hinterlassenschaften, auch wenn die Zerstörungen als Zufälle des Krieges erscheinen mögen. (Fig. 7, 8)

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 7: Luftfoto von Judayda mit dem Haus Ghazala (dargestellt in braun), 1954 | KLM/Archives of the City council
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 8: Satellitenfoto der zerstörten Teile des Judayda-Viertels, 2017 | UNITAR

Das Judayda-Viertel und das Haus, das einst der Familie Ghazala gehörte – Beispiel des Wohlstands im ersten osmanischen Jahrhundert in Aleppo

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses ( Teil 1)
Fig. 9: Blick über Judayda: ein gemischt christlich-muslimisches Viertel mit Hofhäusern, Kirchen (links: der Turm der armenisch-orthodoxen 40 Märtyrerkirche), Moscheen und Waqfs

Nach der osmanischen Eroberung im Jahre 1516, d.h. vier Jahrhunderte vor den im 20. Jahrhundert vom Westen eingeführten „Modernisierungsmaßnahmen“, erlebte die Stadt eine zügig voranschreitende Neugestaltung, die bereits gegen Ende der Mamlukenzeit begonnen worden war. (Fig. 9) Die meisten traditionellen Produktionsaktivitäten wurden von den zentralen Suqs in die aufstrebenden Vororte verlagert, darunter insbesondere nach Judayda mit seiner gemischt muslimisch-christlichen Umgebung im Norden. Die Behörden förderten die Einwanderung von Christen, die in hohem Maße an den wirtschaftlichen Aktivitäten  der Stadt beteiligt waren und sich bevorzugt in den Vierteln niederließen, in denen sich bereits ihre Kirchen befanden. Eine wichtige Entwicklungsmaßnahme war die Einrichtung eines ersten großen muslimischen Waqf im Jahr 1583  in Judayda – der des Gouverneurs Bahram Pasha. Dazu gehörte der größte Hammam der Stadt, eine Qaysariyya und ein Suq. Der zweite, noch größere Waqf, den Ibshir Pascha 1653 errichten ließ, bildet mit mehreren Suqs für Handel und lokale Dienstleistungen sowie Qaysariyyas für Textilhandwerker das Zentrum von Judayda. (Fig. 7, 8) Das Haus Ghazala wurde am Rande des Kirchenviertels und in der Nähe dieser Waqfs errichtet, mit denen es ungefähr zeitgleich ist. Ihre Büros hatten die meisten Kaufleute und Bankiers christlicher Konfession, die in Judayda und den angrenzenden Vierteln lebten, jedoch üblicherweise in den zentralen Karawansereien (Khanen), die an sich schon eine Stadt bildeten – so stammt der große Khan al-Jumruk bereits aus dem 16. Jahrhundert. Sie arbeiteten mit europäischen Händlern und Konsuln oder für muslimische Honoratioren, Großgrundbesitzer und Steuerpächter, die Abgaben auf dem Land und aus anderen Produktionsbereichen einzogen. Diese Kaufleute traten auch als Kreditgeber für Getreidebauern und Viehzüchter auf. 


[1] Ein Waqf (Plural dt.: Waqfs, arab. awqaf) ist eine Stiftung durch eine Privatperson zu einem gemeinnützigen, frommen oder wohltätigen Zweck. Ein Gebäude kann bereits vorhanden oder eigens errichtet worden sein.


Featured image: The courtyard with iwan and T-shaped hall (qa’a) after the destruction, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)


[Übersetzung des französischen Textes:]

Jean-Claude David. „La guerre d’Alep 2012-2016. Destruction de la maison Ghazalé (1/2),” ArchéOrient – Le Blog, 9. März 2018 https://archeorient.hypotheses.org/8296 

(siehe auch Teil 2: Jean-Claude David. La guerre d’Alep 2012-2016)


Autorenschaft von Hasan Ali: Hasan Ali ist ein palmyrenischer Archäologe und Historiker mit einem Bachelor der Universität Damaskus. Mit Unterstützung des Deutschen Archäologischen Instituts Istanbul dokumentiert er das kulturelle Erbe Palmyras und seiner Umgebung im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart.

Weitere Beiträge zur Technik der ʿajami-Dekoration und dem Haus Ghazala siehe:


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Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)

von Jean-Claude David

Das Ghazala-Haus – Projekt: Vom großen städtischen Anwesen  zum Museum der Erinnerung an Aleppo (Mathaf Zakirat Halab)

Im Jahre 2009, zwei Jahre vor Beginn des Krieges in Syrien, begannen Nachfahren der Familie Ghazala die Erinnerung an das Haus ihrer Vorfahren in Aleppo zu sammeln und das Wissen darüber vertiefen. Unsere Publikation “Alep: La maison Ghazalé – Histoire et devenirs” (Editions Parenthèses, 2019) ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Ziel war es dabei nicht nur, die historische Pracht dieser Architektur den Leserinnen und Lesern nahezubringen und eine Vorstellung von der Lebensqualität in ihm zu vermitteln, sondern auch eine wichtige Dokumentation zu erstellen. Die zahlreichen schriftlichen, gezeichneten und fotografischen Zeugnisse in unserem Buch stellen auch eine wichtige Grundlage für jede Restaurierung dar, die nach der fast vollständigen Zerstörung des Hauses durch den Krieg vorgenommen werden sollte. Als besonders kunstvolles Beispiel für ein großes Haus, das von jeder aleppinischen Familie – unabhängig von ihrer Konfession – hätte bewohnt sein können, war als Museum für aleppinische und syrische Geschichte und Identität ideal geeignet.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 1: Der große Innenhof während der Restaurierungsarbeiten 2009-2011 | François Cristofoli (CC BY-SA 4.0)

Wie es bis 2011 bestand, war das größtenteils im 17. und 18. Jahrhundert erbaute Haus Ghazala von christlichen Familien bewohnt (Fig. 1, 4). Machte diese konfessionelle Verankerung das Haus zu einem besonderen Kulturerbe? Beschreibungen und Analysen mehrerer von Christen erbauter und bewohnter Häuser belegen, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen einem „christlichen“ und einem „muslimischen Haus“ aus derselben Zeit gab. Kultur – ob materiell oder immateriell – setzt sich aus unterschiedlichsten Elementen zusammen, darunter auch aus der Pluralität der Religionen. Die Häuser verkörpern nur ganz wenige spezielle Merkmale des Islam, des christlichen Glaubens oder der armenischen, katholischen, orthodoxen oder jüdischen Identität.

Ganz im Gegenteil: arabische Schrift und Literatur als gemeinsame Sprache und vorislamisches Erbe sind überall anzutreffen. Nicht-muslimische Elemente sind also keinesfalls fremd, sondern bilden den Nährboden für die kulturelle und historische Entwicklung eines gemeinsamen Erbes.

Wurde das Haus Ghazala während des Krieges angegriffen?

Im Jahre 2010 war das Ghazala-Haus ein historisches Denkmal und einstiger Ort regen Alltagslebens, jedoch seit über einem Jahrhundert unbewohnt. Der Bruch, der durch veränderte Lebensweisen seit Ende des 19. Jahrhunderts und durch die Übernahme von „Modernität“ hervorgerufen wurde, ging mit einer Ablehnung der Vergangenheit einher. In den 2000er Jahren wurde das Haus von der syrischen Generaldirektion für Altertümer und Museen übernommen, um dort ein Museum der Erinnerung an Aleppo einzurichten. Die Arbeiten begannen mit der Restaurierung des Gebäudes und es folgten Vorbereitungen für die auszustellenden Sammlungen.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 2: Blick zur Nordfassade des großen Innenhofes; dieser Teil des Hauses wurde am Ende des 17.Jahrhunderts erbaut, 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)

Doch schon im Herbst 2012, kurz nach Kriegsbeginn in Aleppo, geriet das Vorhaben eines Museums in Gefahr: die Frontlinie führte ganz dicht am Haus vorbei. Die erst kurz vorher restaurierten Holzvertäfelungen wurden abmontiert und weggebracht – vermutlich von organisierten und geschützten Plünderern. Drei Jahre lang, in denen sich die Frontlinie wenig bewegte, konnte das Haus einer Zerstörung entgehen. Doch 2015 verlagerte sich die Frontlinie und die Kämpfe um Rückeroberung der von Rebellen besetzten Gebiete intensivierten sich. Durch unterirdische Sprengungen, Mörserbeschuss, Luftangriffe und Bodenkämpfe wurde das an Denkmälern und touristischen Einrichtungen reiche Viertel Judayda stark in Mitleidenschaft gezogen. Einige Zerstörungen scheinen sich gezielt gegen touristische Investitionen, den öffentlichen Raum und alte muslimische Waqfs[1], das Museum für Volkstraditionen (Haus Ajiqbash), das künftige Museum der Erinnerung an Aleppo, Moscheen und einige Kirchen gerichtet zu haben. Verkehrsflächen, die einen klaren strategischen Wert haben, wurden bombardiert – gut sichtbare Orte waren bevorzugte Ziele.

Im Haus Ghazala ist der Iwan (zum Hof offener Raum) fast vollständig zerstört, ebenso ein Teil der Qaʿa (Empfangsraum) und des Hammams. Satellitenbilder belegen, dass die meisten Schäden in Haus und Nachbarschaft vor August 2015 entstanden sind (Fig. 3). Im Jahr 2017 waren nur noch ein Teil des Anwesens und der geschnitzte Dekor von West-, Nord- und Ostfassade erhalten. 

The courtyard, view towards the east, after the destruction
Fig. 3: Der große Hof (Blickrichtung nach Süden) nach den Zerstörungen durch die Schlacht um Aleppo – mit dem Iwan, der in Trümmern liegt, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, Foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Eine widersprüchliche Haltung zum Kulturerbe: teils beansprucht, teils ignoriert oder abgelehnt, vor allem aber geplündert und durch den Krieg zerstört

Bereits vor dem Krieg waren die Spuren der überlieferten urbanen Lebensweise, die in der Stadt diffus verteilt und mit neuen Praktiken in neuen Architekturen verwoben waren, schwer lesbar geworden; der Krieg hat diese Schwierigkeit noch verstärkt. Durch ihn wurden der Verlust von kulturellem Erbe und die Zerstörung von traditionellem Umfeld nur umso deutlicher. Denkmäler verschwanden, Häuser wurden geplündert, verbrannt, gesprengt oder bombardiert – ebenso wie die Suqs und Tausende anderer historischer Gebäude. Dies führte zum Verlust der historischen Kultur, die bereits zuvor durch den Tourismus verändert worden war oder auch als rückwärtsgewandt gegolten hatte.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 4: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im östlichen Nebenraum des Iwans („qubba“) aus dem 17. Jahrhundert; die Oberflächen sind gesäubert und restauriert, vor 2011  | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
Bayt Ghazala, ʿajami wall panels decorating the red hall (qaʿa)
Fig. 5: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im Roten Salon (neben dem Eingangsraum), 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 6: Eine eher touristische Infrastruktur mit Restaurants/Hotels in traditionellen Häusern ebenso wie Läden, hatte sich vor dem Krieg gerade auch in Judayda entwickelt, 2017 | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)

Der Krieg hat einige Menschen dazu gebracht, ihre Sicht auf die Vergangenheit radikal zu verändern. Vor dem Konflikt stand bei Entscheidungen über die Ausweisung von Denkmälern oder Stadtgebieten die touristische Aufwertung und die westliche Perspektive im Vordergrund.  Danach wurde dieser Blick von außen in Frage gestellt und stattdessen nach Werten gesucht, die als authentischer wahrgenommen wurden und in der arabischen und muslimischen Kultur verwurzelt waren. Die Beziehung zum Erbe wurde auch zweideutiger: sie bewegte sich zwischen dem Anspruch auf Identität und dem Wunsch, Investitionen zu tätigen, indem das Erbe an Bauträger verkauft wird. Einige unter den Rebellen sahen diese Form der Inwertsetzung von kulturellem Erbe kritisch. Die Zerstörung des Erbes könnte Ausdruck einer Ablehnung des Westens und des Wunsches sein, eine Form des Eurozentrismus zu liquidieren, die über die touristische Inwertsetzung lief. (Fig. 6).

Das Museum der Erinnerung von Aleppo war ein notwendiges Projekt, um die Aleppiner dazu zu bewegen, die Vergangenheit ihrer Stadt anzuerkennen – jenseits der propagandistischen Schulklischees oder der Predigten der Moscheen. Die Zerstörung dieses Museums, das sich erst im Aufbau befand, hat zweifellos eine starke ideologische und politische Bedeutung: Es ist eine Art Ablehnung der Geschichte und ihrer Hinterlassenschaften, auch wenn die Zerstörungen als Zufälle des Krieges erscheinen mögen. (Fig. 7, 8).

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 7: Luftfoto von Judayda mit dem Haus Ghazala (dargestellt in braun), 1954 | KLM/Archives of the City Council of Aleppo
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 8: Satellitenfoto der zerstörten Teile des Judayda-Viertels, 2017 | UNITAR

Das Judayda-Viertel und das Haus, das einst der Familie Ghazala gehörte – Beispiel des Wohlstands im ersten osmanischen Jahrhundert in Aleppo

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 9: Blick über Judayda: ein gemischt christlich-muslimisches Viertel mit Hofhäusern, Kirchen (links: der Turm der armenisch-orthodoxen 40 Märtyrerkirche), Moscheen und Waqfs

Nach der osmanischen Eroberung im Jahre 1516, d.h. vier Jahrhunderte vor den im 20. Jahrhundert vom Westen eingeführten „Modernisierungsmaßnahmen“, erlebte die Stadt eine zügig voranschreitende Neugestaltung, die bereits gegen Ende der Mamlukenzeit begonnen worden war. (Fig. 9). Die meisten traditionellen Produktionsaktivitäten wurden von den zentralen Suqs in die aufstrebenden Vororte verlagert, darunter insbesondere nach Judayda mit seiner gemischt muslimisch-christlichen Umgebung im Norden. Die Behörden förderten die Einwanderung von Christen, die in hohem Maße an den wirtschaftlichen Aktivitäten  der Stadt beteiligt waren und sich bevorzugt in den Vierteln niederließen, in denen sich bereits ihre Kirchen befanden. Eine wichtige Entwicklungsmaßnahme war die Einrichtung eines ersten großen muslimischen Waqf im Jahr 1583  in Judayda – der des Gouverneurs Bahram Pasha. Dazu gehörte der größte Hammam der Stadt, eine Qaysariyya und ein Suq. Der zweite, noch größere Waqf, den Ibshir Pascha 1653 errichten ließ, bildet mit mehreren Suqs für Handel und lokale Dienstleistungen sowie Qaysariyyas für Textilhandwerker das Zentrum von Judayda. (Fig. 7, 8). Das Haus Ghazala wurde am Rande des Kirchenviertels und in der Nähe dieser Waqfs errichtet, mit denen es ungefähr zeitgleich ist. Ihre Büros hatten die meisten Kaufleute und Bankiers christlicher Konfession, die in Judayda und den angrenzenden Vierteln lebten, jedoch üblicherweise in den zentralen Karawansereien (Khanen), die an sich schon eine Stadt bildeten – so stammt der große Khan al-Jumruk bereits aus dem 16. Jahrhundert. Sie arbeiteten mit europäischen Händlern und Konsuln oder für muslimische Honoratioren, Großgrundbesitzer und Steuerpächter, die Abgaben auf dem Land und aus anderen Produktionsbereichen einzogen. Diese Kaufleute traten auch als Kreditgeber für Getreidebauern und Viehzüchter auf. 


[1] Ein Waqf (Plural dt.: Waqfs, arab. awqaf) ist eine Stiftung durch eine Privatperson zu einem gemeinnützigen, frommen oder wohltätigen Zweck. Ein Gebäude kann bereits vorhanden oder eigens errichtet worden sein.


Featured image: The courtyard with iwan and T-shaped hall (qa’a) after the destruction, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)


[Übersetzung des französischen Textes:]

Jean-Claude David. „La guerre d’Alep 2012-2016. Destruction de la maison Ghazalé (1/2),” ArchéOrient – Le Blog, 9. März 2018 https://archeorient.hypotheses.org/8296 

(siehe auch Teil 2: Jean-Claude David. La guerre d’Alep 2012-2016)


Autorenschaft von Jean-Claude David: Jean-Claude David, pensionierter CNRS-Forscher, ist Geograph und Spezialist für nahöstliche Städte [UMR 5133 – Archéorient, Maison de l’Orient et de la Méditerranée, Lyon].

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Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) – das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)

von Jean-Claude David

Wohnen im Haus Ghazala vor 1880: Architektur, Räume, Funktionen

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 1: „Türkische Dame von Rang in der richtigen Kleidung aus Aleppo…“ und Dienerin in einem Aleppiner Haus | Kupferstich, in:  Alexander Russell „The Natural History of Aleppo“, 1794, Vol. I, p. 107, Tafel III

Ein traditionelles Haus ist eine geschützte Umgebung. Es gibt nur wenige Fenster oder Mashrabiyas an der Außenseite des Hauses, nichts weist auf dessen Bedeutung hin: keine verzierten Fassaden, keine monumentale Tür. Allenfalls durch Geräusche, Stimmen und Gerüche kann etwas vom verborgenen Leben nach außen dringen. Das Haus ist ein fast schon sakraler Raum, es ist in seiner Gesamtheit dem Familienleben gewidmet: Der „Haremlik“ umfasst den Bereich, in dem der Haushalt geführt wird, Kinder erzogen werden, Essen zubereitet wird – das ganze Programm an Aktivitäten, für die die Herrin des Hauses verantwortlich ist. Der Harem des Ghazala-Hauses mit seiner christlich-monogamen Familie umfasste die Ehefrau des Hausherrn, die unter demselben Dach lebenden Söhne und deren Familien, die Kinder der verschiedenen Ehepaare, die weiblichen Bediensteten und schließlich die Männer  der Familie. Beide Bereiche des Hauses, der Haremlik der Familie und der mehr öffentliche Selamlik der Männer, waren weniger isoliert voneinander als es in muslimischen Häusern der Fall war.

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 2: Der große Innenhof während der Restaurierungsarbeiten (Blickrichtung nach Westen) im Oktober 2011 | May Ghazalé Sikias (CC-BY-NC-SA)

Das Haus Ghazala war eines der größten Anwesen des christlichen Viertels. Im 18. Jahrhundert umfasste es fast 1.600 m2, wovon 570 m2 auf die sechs Höfe (d.h. 35 % der Grundfläche) entfielen, die damals existierten. Die Höfe waren weit mehr als nur ein Patio, der seine Fassaden zu einem inneren Außen öffnet, sie waren das Herz des Hauses. (Fig. 2) Um den Haupthof herum konnte das Haus vergrößert oder verkleinert werden: Zugemauerte Durchgänge und spätere Umgestaltungen zeigen, dass dieser Lebensraum wandelbar war. In einem alten, orientalischen Haus gibt es keine häuslichen Funktionen, die eine dauerhafte architektonische Sonderausstattung erfordern – mit Ausnahme von Toiletten (die es immer noch gibt), der Küche und des Hammams – letzterer ist jedoch nur in sehr reichen Häusern zu finden. Im Haus Ghazala konnte nicht festgestellt werden, welcher Raum eine dauerhafte Funktion hatte, sei es als Empfangs-, als Wohn-, Schlaf- oder Esszimmer. Alle Räume des Hauses hatten am Eingang eine ʿataba; dies ist eine Art „Vorraum“ ohne Wände, der durch einen Höhenunterschied von etwa 50 cm definiert ist. ( Fig. 7 und 8) Im ʿataba-Bereich stand man oder bewegte sich, er lag auf Hofniveau; dagegen saß man im erhöhten Bereich auf dem Boden, ohne sich viel zu bewegen. Jede Körperhaltung hatte ihren Platz im Raum oder auf dem Hof, entsprechend der Jahres- oder Tageszeit.

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Fig. 3: Blick in den großen Innenhof mit Wasserbassin und dem Iwan, 2010 | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
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Fig. 4: Der Innenhof (Blickrichtung nach Osten) mit dem eingestürzten Iwan nach der Zerstörung, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Heute misst das Haus Ghazala 1.052 m2, wovon noch 360 m2 auf die Höfe entfallen. Zum Vergleich: Das unweit gelegene, ebenfalls christliche Haus ʿAjiqbash hat eine Grundstücksfläche von 512 m2, von denen 176 m2 auf den großen Innenhof und 12 m2 auf den Wirtschaftshof entfallen, insgesamt also 188 m2 Hofflächen, sprich: 36,6 % des Grundstücks.

Wirtschaftsräume, Küchen und der private Hammam befinden sich in der nördlichen Haushälfte, und damit weit entfernt von den repräsentativen Räumen. Der Iwan, ein Raum in Form einer riesigen Nische, befindet sich immer im südlichen Flügel und ist nach Norden hin offen. Sowohl die Form als auch die Ausrichtung erfüllen den Wunsch nach Kühle und Schatten, während man sich im Freien aufhält. Ein hölzernes Vordach vergrößert die Schattenfläche vor dem Iwan. (Fig. 3 u. 4)  Wie der Innenhof ist auch der Iwan ein Raum für die Übergangsmonate, für frische Stunden am frühen Morgen, Sommernächte und sonnige Momente des Winters. Die mehrtausendjährige Vergangenheit dieser architektonischen Form und ihre Bedeutung in den Architekturen des Orients vor dem Islam lassen sie auch als Zeichen der Macht (oder der Herrschaft oder der Heiligkeit) interpretieren: Der Iwan ist ein “Thronsaal” für einen Hausherrn, der über Macht verfügt, auch wenn diese noch so gering ist. Vom Iwan aus kann er alles beobachten, was sich im Hof abspielt – das gesamte häusliche Leben und die Besucher. Im Iwan ist er sichtbar, er sitzt dort allein oder in Gesellschaft. Der Iwan kann auch als häuslicher Raum dienen – wie ein gewöhnlicher Raum, in dem man Gäste empfangen, essen, kochen und schlafen kann.

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 5: Der zerstörte süd-westliche Teil des Hauses (Blickrichtung zum Iwan): im Vordergrund die beschädigte Kuppel der qaʿa, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)
Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 6: Blick auf die nördliche und östliche Fassade des großen Hofes nach der Zerstörung, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Die meisten Wohnräume reihen ihre Fenster und Türen in der Hoffassade aneinander. Nischen und Wandschränke befinden sich zumeist in der Längswand gegenüber den Öffnungen. Neben der Eingangstür liegt ein Teil des Fußbodens tiefer als der Rest des Raumes: die ʿataba (Fig. 7 und 8).

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 7: Die nördliche Raumnische der T-förmigen qaʿa mit ihrer ʿataba und dem Wasserbassin im Vorderground – das Foto entstand am Ende der Zeit, als das Haus als Schule diente, ca. 1980 | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
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Fig. 8: Die südliche Raumnische der T-förmigen Qa’a mit ʿataba und Wasserbassin im Vordergrund – bevor die Restaurierungsarbeiten stattfanden, 1995 | Julia Gonnella (CC-BY-NC-ND)

In den östlichen Kulturen werden in der Architektur Räume für zwei verschiedene Körperhaltungen unterschieden: Der Bewegung und dem Stehen entsprechen der Hof, die Korridore und die ʿatabas. (In Japan, wo das Sitzen traditionell auf dem Boden stattfindet, differenziert man die Bereiche durch das Bodenmaterial.) Der Höhenunterschied erleichtert den Dialog zwischen Menschen, die im tiefer gelegenen Raum stehen, und Menschen, die auf dem erhöhten Teil sitzen, markiert aber gleichzeitig einen Statusunterschied: Das Stehen in der ʿataba ist ein Zustand des Wartens in einer Art „innerem Außen“ und die Körperhaltung dort ist die eines Untergebenen. Im Unterschied dazu sitzt man im erhöhten Bereich auf dem Boden, lehnt sich an die Rückenkissen und wird von seitlichen Armkissen unterstützt. Diese Sitzhöhe bestimmt die Höhe des Blickkontaktes, es bestimmt die Höhe von Fenstern und deren -bänken und damit letztlich die Organisation von Fußboden- ebenso wie von Fassadenebenen. Die unterschiedlichen Bodenebenen definieren darüber hinaus, ob der Raum trocken oder evtl. auch feucht gehalten werden soll – ein weiteres wesentliches Merkmal. Im Falle einer mit Stein ausgelegten ʿataba ist ihr Boden für die Aufnahme von Wasser bestimmt. Hier konnte man sich waschen oder wie im Hammam rituelle Waschungen vornehmen. Das Wasser lief durch den Abfluss in der Steinschwelle nach außen ab, um beispielsweise von draußen mitgeschleppten Schmutz an den Schuhen zu entfernen. Wasser, als Symbol von Sauberkeit und Mittel zur Reinigung, spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Auf der ʿataba konnte auch ein Kohlebecken aufgestellt werden, um vorbereitetes Essen warm zu halten. 

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 9: Erdgeschossgrundriss des Hauses Ghazala, 2012 | Bauaufnahme Thierry Grandin, Infografik RC Heritage (CC-BY-SA 4.0)

Der Westflügel des Hauses wurde zwischen 1747 und 1751 wieder aufgebaut (Fig. 9). Dieser Umbau brachte neuen Komfort. Die Räume, aus denen dieser Flügel besteht, sind untereinander verbunden: Jeder ist sowohl vom Hof aus zugänglich als auch steht er mit dem vorherigen und dem nächsten Raum in Verbindung, die sich vom Iwan über den Winterraum bis hin zum Hammam fortsetzt. Der Winterraum, der größte Raum des Hauses, hat die Besonderheit, dass er sich zwischen Hof und Garten befindet, mit zwei Fassaden, die von einer Tür und Fenstern durchbrochen werden, durch die man hinaus blicken kann. Eine durchgehende ʿataba, auf der man in Schuhen gehen konnte, ermöglichte den Übergang vom großen Hof zum offenen Bereich im Süden, der möglicherweise ein Garten war. Ein Kamin aus Marmor und Mosaiken nahm die Mitte der Westwand des Raumes zwischen den Wandschränken ein. Unter dem Raum befand sich ein großer Keller mit einem kleinen achteckigen Becken, der als Sommerraum genutzt werden konnte. Er war vom Garten aus zugänglich.

Die große Qaʿa in der Mitte des westlichen Flügels ist ein Raum mit T-förmigem Grundriss, eine Kombination aus drei Iwanen um eine zentrale ʿataba, die mit einem kleinen Wasserbecken verziert und von einer großen Kuppel bedeckt ist. (Fig. 5, 7 u. 8, 10) Die vierte Seite der ʿataba öffnet sich durch eine Tür zwischen zwei Fenstern zum Innenhof hin. Als Innendekoration lag ein geometrisches Steinpflaster auf den Böden der ʿataba und in den drei Iwanen. Die Wände waren früher bis zur Höhe des Gesimses mit einer dekorativ bemalten Holzvertäfelung verkleidet. 2012 wurden die Holzpaneele gestohlen. Der obere Teil der Wände sowie die Innenseite der Kuppel waren mit weißem Kalkputz überzogen. In den drei Iwanen waren die Decken mit bemalten Holzkassetten verkleidet, die von mehreren Zierleisten und einem Inschriftenband eingerahmt waren. (Fig. 10)

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Fig. 10: Decke und zentrale Kuppel der Qaʿa vor den Restaurierungsarbeiten und dem Krieg, 1985 | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
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Fig. 11: Der rote Salon nach der Restaurierung, 2011 | May Ghazalé Sikias (CC-BY-NC-SA)

Vier Täfelungen im hinteren Teil des mittleren Iwans waren mit Hirschen verziert, die sich mit großen Blumen und Vögeln abwechseln und mit leichtem Relief auf dunkelgrünem Hintergrund dargestellt sind. Diese Hirsche könnten ein Hinweis darauf sein, dass die Inspiration für diese Verzierung von außen kam. Die große Qaʿa ist im Allgemeinen der schönste Raum des Hauses, der im Sommer am kühlsten bleibt – dank des zentralen Wasserbeckens und der Luftkanäle (batinj oder badahinj), die die kühle Luft der Westwinde in den Raum leiten, die auf den Dachterrassen eingefangen wird. Mehrere Hinweise deuten darauf hin, dass diese Qaʿa, wie andere große Räume in christlichen Häusern, auch als Andachtsraum für die Familie Ghazala, die der griechisch-katholischen Konfession angehörte, dienen konnte. 

Der Hammam ist einem kleinen öffentlichen Bad sehr ähnlich – mit einem großen Warmbaderaum, jedoch ohne Umkleideraum. (Fig. 12 u. 13) An seine Stelle trat die große Qaʿa, die mit dem Hammam verbunden war. Der Hammam, Ort von Hygiene und Reinigung, war zugleich auch Ort von Ruhe und Geselligkeit. In zentraler Ordnung mit einem überkuppelten  Raum in der Mitte umgaben ihn vier Iwane, die sich mit vier Nischen abwechseln.

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 12: Die Kuppel des Heißraums des Hammams – vor der Zerstörung, Foto aus dem Oktober 2011 | May Ghazalé Sikias (CC-BY-NC-SA)
Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 13: Der Heißbaderaum des Hammams wurde während der Kämpfe teilweise zerstört, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Über Küchen, Lagerräume für Getreide und Vorräte, Keller und Höhlenkeller, Ställe sowie Unterkünfte der Bediensteten ist wenig bekannt, da sie aufgegeben wurden, als das Haus in eine Schule umgewandelt wurde. Eine Küche in der nordöstlichen Ecke – vom großen Hof aus zugänglich – enthält eine Kochstelle auf der Ostseite und Abdeckungen von Brunnen und Zisternen. Sie war mit Räumen des nördlichen Teils des Hauses, mit dem nördlichen Eingang und dem Außenbereich verbunden. 

Die Keller nehmen eine beträchtliche Fläche ein. Sie befinden sich unter den Erdgeschossräumen, umschließen die Höfe und sind fast 300 m² groß. Hinzu kommen etwa 50 m² in den Fels gebaute Höhlenkeller, Zisternen und andere Keller, die sich zumeist unter den Höfen befinden. Wasser schöpfte man aus dem Brunnen: Regenwasser und brackiges Grundwasser, das in Zisternen aufbewahrt wurde. Aus zwei öffentlichen Brunnen in der Nähe konnte man durch ein antikes Aquädukt Quellwasser holen. 

Das Ghazala-Haus war seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr bewohnt, immer weniger Leben war im Viertel. Konnte da der Tourismus etwas retten?

Noch in den 1980er Jahren bildeten Judayda und seine Suqs das Zentrum eines beliebten und dynamischen traditionellen Viertels. Hier gab es florierende Geschäfte, die nicht nur den täglichen Bedarf an Lebensmitteln deckten, sondern auch für festliche Anlässe und zur Einrichtung von Vorräten einiges zu bieten hatten; manche werden noch immer von verschiedenen Familien unterhalten. Die größten christlichen Familien sind in die modernen Viertel gezogen und ihre Anwesen verwandelten sich zu Schulen, Waisenhäusern oder Verbandssitzen u. ä. Die Geschäfte von Judayda blieben jedoch ein Synonym für Qualität. Traditionelle Praktiken verschwanden allmählich, da ein Teil der Frauen außerhäuslich verschiedenen Lohnarbeiten nachgingen; mehr und mehr wurden Gefriertruhen genutzt (die die Vorratswirtschaft ersetzen; Anm. der Lektorin) und auch in den neuen Stadtvierteln entwickelten sich Lebensmittel-Suqs. Bis 1980 waren die alten Textilherstellungsaktivitäten verschwunden.

Die Schlacht um Aleppo 2012-16: Einstiges Leben im Ghazala-Haus (Beit Ghazaleh) - das zerstörte Kulturerbe (Teil 2)
Fig. 14: Die Gasse vor dem Haus Ghazala im Jahr 2017 (Blick nach Norden) | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Zwanzig Jahre später hat der Tourismusmarkt die früheren Einkommensarten ersetzt, allerdings mit fragwürdigen Immobilieninvestitionen und Restaurierungen. Bewohner versuchen, ihre schönen Häuser zum besten Preis an Investoren zu verkaufen, diese wiederum verwandelten sie in Restaurants und Hotels. In den 1970er und 80er Jahren waren die letzten bescheiden lebenden christlichen Mieter weggezogen und auch die seltenen Versuche einiger Idealisten, die schönen Häuser für den Eigengebrauch zu restaurieren, scheiterten, und sie richteten dort schließlich Büros oder Touristenläden ein. Es stellt sich also die Frage: Sind Investitionen für den Tourismus nur das Trugbild eines neuen Wirtschaftswunders, das von Traditionen und lokaler Kultur weitgehend abgekoppelt ist? War diese Zweckentfremdung des Erbes eine Möglichkeit, es zu erhalten, bis der Krieg es zerstörte?


Beitragsbild: Detail der bemalten Holzvertäfelung (ʿajami) in Haus Ghazala, 2010 | Ziad Baydoun from Baydoun Creation (CC-BY-NC-ND)


[Übersetzung des französischen Textes:]

Jean-Claude David. Der Krieg um Aleppo 2012-2016. Einstiges Leben im Ghazalé-Haus: Das zerstörte Kulturerbe (2/2), ArchéOrient – Le Blog, 16. März 2018 https://archeorient.hypotheses.org/8332 


Autorenschaft von Jean-Claude David: Jean-Claude David, pensionierter CNRS-Forscher, ist Geograph und Spezialist für nahöstliche Städte [UMR 5133 – Archéorient, Maison de l’Orient et de la Méditerranée, Lyon].

Weitere Beiträge zur Technik der ʿajami-Dekoration und dem Haus Ghazala siehe:

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Beit Ghazaleh: Das Haus meiner Urgroßeltern

Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft

von Hiba Bizreh

Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Karte Mesopotamiens | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)

Die riesige Region des nördlichen Mesopotamien reicht vom Euphrat bis zum Tigris und wird als al-Jazira – arabisch für „die Insel“ – bezeichnet. Im heutigen Nordostsyrien gelegen, umfasst sie die Überschwemmungsgebiete des Euphrat und seiner beiden Hauptzuflüsse, des Khabur und des Balikh.

Eine natürliche Grenze stellen die beiden Gebirgszüge Jabal ʿAbd al-ʿAziz und Jabal Sinjar  dar, die die fruchtbare, nördliche „Obere Jazira“ von der südlichen „Unteren Jazira“ mit ihren mancherorts kargeren Böden separiert.

A general view of ʿAbd al-ʿAziz Mountains, showing the village of Al-Ghara, which contains the shrine of ʿAbd al-ʿAziz
Blick auf den Höhenzug ʿAbd al-ʿAziz mit dem Dorf Al-Ghara, wo sich der Schrein von Shaykh ʿAbd al-ʿAziz befindet, 1990 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz (CC-BY-NC-SA
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Auf dem Khabur bei Raʾs al-ʿAyn, einfache Seilfähre aus leeren Fässern, 1989 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Dank jährlicher Niederschläge von mehr als 300 mm (unweit der östlichen Taurusausläufer) lassen sich Feldfrüchte, vor allem Weizen, in der Oberen Jazira im Regenfeldbau anbauen. Im Süden hingegen erfordert die Kultivierung des Landes, insbesondere der Anbau von Baumwolle, künstliche Bewässerung, der Regen würde hier keinesfalls ausreichen. Viehzucht ist in der gesamten Jazira eine wichtige Grundlage des täglichen Lebens, es werden Schafe, Ziegen und Kühe gehalten.

Der Khabur als wichtigste Lebensader die Region durchfließt beide Teile des nördlichen Mesopotamien. Die weiten Steppen und Täler des Flussbeckens mit ihren zahlreichen, vor allem in Stromnähe befindlichen archäologischen Fundstätten, sind Zeugen einer Besiedlung durch den Menschen seit prähistorischer Zeit.

Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Karte des Khabur-Bassins mit den wichtigsten archäologischen Stätten | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)

Der nördliche Teil des Khabur-Beckens weist eine dreieckige Form auf, und wird als „Khabur-Dreieck“ oder „Oberer Khabur“ bezeichnet. Die moderne Stadt al-Hasaka befindet sich im südlichen Winkel dieses Dreiecks, das viele kleinere und größere Orte wie Raʾs al-ʿAin und al-Qamishli umfasst. In dieser Region fließt eine Reihe von Wadis zusammen, die in den Khabur münden. Trotz der Trockenheit im Sommer erwacht die Region im nächsten Frühjahr dank der winterlichen Niederschläge – vor allem auch aus dem nördlich anschließenden Tur Abdin-Gebirge (heute Türkei) – wieder zum Leben.

Das mittlere Khabur-Becken liegt zwischen den Städten al-Hasaka und al-Shaddada, während der südlichere Teil bis zur Mündung in den Euphrat bei Busayra/al-Bsira als das untere Khabur-Becken bezeichnet wird.

Tall ʿAjaja, view towards the Khabur from the archaeological Tall
Tall ʿAjaja, Blick vom Siedlungshügel auf den Khabur, 1984 | Deutsches Archäologisches Institut (CC-BY-NC-SA)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Khabur mit Weidenbäumen am Ufer, 1963 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, collection Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Seit dem 19. Jahrhundert fühlten sich Archäologen und Reisende von der an historischen Stätten reichen Khabur-Region angezogen. Erste Funde wurden im Jahre 1850 verzeichnet, als der britische Archäologe Austen Henry Layard im Gebiet des unteren Khabur Ausgrabungen durchführte. Im Jahre 1893 bereiste der deutsche Diplomat Max von Oppenheim (siehe Artikel „Der Eselsführer von Max von Oppenheim) die Region und beschrieb einige wichtige Fundstätten an den Flussufern des Khabur.

1907/08 untersuchten Ernst Herzfeld und Friedrich Sarre viele altorientalische Siedlungshügel (Talls) am Westufer des Flusses. Die ersten genaueren Geländeuntersuchungen an Talls des unteren Khaburs und südlich von Hasaka fanden zwischen 1975 und 1977 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Tübinger Atlas des Vorderen Orients“ (TAVO) statt, bei dem 55 archäologische Orte entdeckt wurden. Sie stammen aus verschiedenen altorientalischen Perioden, vor allem aus der Bronzezeit (3000-1200 v. Chr.) – so wie beispielsweise Tall ʿAjaja und Tall Taban. In Tall Shaykh Hamad/Dur Katlimmu gräbt ein Team der FU Berlin unter der Leitung von Hartmut Kühne seit 1978, das 550 keilschriftliche akkadische und 40 aramäische Texte geborgen hat.

Tall ʿAjaja, remains of a mud brick wall, 9th c. BC
Tall ʿAjaja, Reste einer Lehmziegelwand aus dem 9.Jahrhundert v. d. Z., 1984 | German Archaeological Institute (CC-BY-NC-SA)
Tall Shaykh Hamad (Dur Katlimmu) - Excavations
Tall Shaykh Hamad (Dur Katlimmu), Grabung, 1986 | Deutsches Archäologisches Institut (CC-BY-NC-SA)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall Taban, Keramikgefäß, 1991 | Deutsches 
Archäologisches Institut, photo Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)

Ab 1983 erforschte ein französisches Team unter der Leitung von Jean-Yves Monchambert das mittlere und untere Khabur-Becken systematisch, nachdem die syrische Generaldirektion der Altertümer und Museen einen internationalen Aufruf zur Dokumentation der historischen Stätten gestartet hatte, da drei geplante Stauseen  diese Stätten überfluten würden. Das französische Team konnte 58 historische Stätten identifizieren, darunter auch Tall Umm Qsayr (Qseir)[1], Tall Ziyada[2] und Tall Raqa’i. Letzterer wurde von der niederländisch-amerikanischen Mission unter der Leitung von Glenn Schwartz und Hans Curvers ausgegraben. Spätere Ausgrabungen an einigen von ihnen ergaben, dass sie archäologische Schichten enthielten, von denen die frühesten aus der Halaf-Periode stammen, gefolgt von der Obed-Zeit (5000-3800 v. Chr.), Uruk-Kultur (3800-3100 v. Chr.), Bronzezeit, klassische Periode, die spätesten stammen aus der frühislamischen Zeit.

Als eine der wichtigsten Fundstätten des mittleren Khabur wurde Tall Mashnaqa entdeckt, der von J.-Y. Monchambert in den Jahren 1985 und 1986 ausgegraben wurde. Danach setzte ein französisches Team unter der Leitung von Dominique Beyer die Forschungen zwischen 1992 und 2000 fort. Bevor Tall Mashnaqa vom Wasser des Stausees überflutet wurde, konnte D. Beyer umfangreiche Ausgrabungen durchführen, die belegen, dass Mashnaqa der – bislang – einzige Tall in der Region des mittleren Khabur ist, der eine Kontinuität menschlicher Besiedlung vom 5. Jahrtausend v. Chr. (Obed-Periode) bis zum 3. Jt. v. Chr. aufweist, ebenso wie eine spätere römische Besiedlung. Das 4. Jt. vor unserer Zeit – sprich: die sogenannte Uruk- Kultur – spielt hier eine besondere Rolle, da aus dieser Zeit wichtige Entdeckungen wie Herde, Brennöfen, Mittelsaalhäuser und ferner auch ein großer, runder Bau, der wohl zu Verteidigungszwecken errichtet wurde, stammen.

Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall Mashnaqa, Mittelsaalhaus aus der Nach-Obed-Periode, Blick nach Südwesten, 1996 | Dominique Beyer (CC-BY-NC-SA)
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Tall Mashnaqa, runder Ofen (im Hintergrund), der an einen rechteckigen Raum angebaut wurde und den die Ausgräber „Backhaus“ nennen – stammend aus der mittleren Uruk-Zeit, 1994 | Dominique Beyer (CC-BY-NC-SA)

Weitere ausländische Missionen folgten dem Aufruf der Generaldirektion der syrischen Altertümer und Museen, darunter die Universität Laval in Kanada, die mit Rettungsgrabungen an zwei Stätten im Mittleren Khabur begann: Tall ʿAtij (am östlichen Ufer) und Tall Judayda (Gudayda) (am westlichen Ufer) ca. 19 km südlich von Hasaka. Die systematischen Ausgrabungen an beiden Stätten wurden von Michel Fortin von 1986 bis 1993 durchgeführt. Er konnte mehrere Gebäude aus der frühen Bronzezeit (erste Hälfte des 3. Jahrtausends) nachweisen – vor allem in Tall ʿAtij, wo die kanadische Mission eine Art Handelsstation entdeckte, die mit mehreren Vorrichtungen zur Lagerung verschiedener Produkte, vor allem aber von Getreide, ausgestattet war.

Einige Kilometer südlich von Tall ʿAtij liegt Tall Bdiri, das während der frühen Bronzezeit ein wichtiges Zentrum in der Region des Mittleren Khabur mit einer Fläche von 6 ha war. Die Ausgrabungen an diesem Ort begannen 1985 und wurden bis 1992 von einer deutschen Mission unter der Leitung von Peter Pfälzner fortgesetzt.

Auch im Khabur-Dreieck zeugen viele Orte von der altorientalischen Geschichte, wie z. B. das an den Ufern des Jaghjagh-Wadis liegende Nagar, das heutige Tall Brak. Dort wurden Ausgrabungen bereits in den 1930ern unter der Leitung des Briten Max Mallowan begonnen und von anderen britischen Archäologen bis zum Jahre 2006 fortgesetzt. Tall Brak gilt als einer der ältesten Orte der Welt, wo bereits zu Beginn des 4. Jts. v. Chr. städtische Ausmaße und Komplexität erreicht wurden. Die Stadt behielt ihre politische Bedeutung und wirtschaftliche Macht während des größten Teils des 3. Jts. v. Chr. Der Haupthügel mit seinen 43 ha enthält Besiedlungsspuren des Menschen vom Beginn des 6. (Halaf-Kultur) bis hin zum Ende des 2. Jts. v. Chr. (Ende der Spätbronze/mittelassyrische Zeit). Zwischen dem Beginn des 4. und über einen großen Teil des 3. Jts. v. Chr. konnte die Stadt ihre große politische und wirtschaftliche Kraft aufrechterhalten. Zu den bedeutendsten Bauten der Uruk-Kultur gehört der sogenannte Augentempel. Aus dem 3. Jts v. Chr hat der Palast des Akkadierkönigs Naram-Sin die Zeiten überdauert.

Tall Brak, ruins of the Eye Temple 4, 4th millennium BC
Tall Brak, Ruinen des sog. Augentempels mit seinen erodierten Mauern, 2004 | Rami Alafandi (CC-BY-NC-SA)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall Brak, Augenamulette aus dem Augentempel | Zunkir CC-BY-SA 4.0
Tall Brak (Nagar), ruins of Naram-Sin Palace, 3rd millennuim BC. [Original photo name: naram sin palace2]
Tall Brak (Nagar), Ruinen des Naram-Sin-Palastes, 3. Jahrtausend v., 2004 | Rami Alafandi (CC-BY-NC-SA)

Mehr als 60 Jahre nach dem Grabungsbeginn auf Tall Brak wurde durch den Fund von Architektur- und Keramikresten eine weitere, in Fortschritt und Zivilisation durchaus in Konkurrenz stehende Stadt aus dem 4. Jt. entdeckt: Tall Hamoukar im östlichen Teil des Khabur-Dreiecks unweit der heutigen irakischen Grenze. Dort forschte das Oriental Institute der University of Chicago in Zusammenarbeit mit einem syrischen Team seit 1999. Die Blütezeit der Stadt ist durch die Entwicklung eines differenzierten städtischen und lokalen Sozialsystems gekennzeichnet und steht beispielhaft für Stätten im nördlichen Mesopotamien während der Uruk-Zeit.

Am Wadi Da’a im oberen Khabur befindet sich der Tall Shaghar Bazar (Chagar Bazar), der zunächst von Max Mallowan in Begleitung seiner Frau Agatha Christie von 1935 bis 1937 ausgegraben wurde. Die Arbeiten wurden 1999 von einer Expedition der British School of Archaeology in Zusammenarbeit mit der Universität Lüttich und der syrischen Generaldirektion für Altertümer und Museen wiederaufgenommen. Bei den Ausgrabungen wurde eine bedeutende Siedlung aus der Halaf-Periode (6. Jahrtausend v. Chr.) entdeckt, die durch meist geometrisch bemalte Keramik und Figuren nackter Frauen, die die Fruchtbarkeit darstellen, gekennzeichnet ist. Die Stätte war bis zum Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. fast ununterbrochen bewohnt und wurde in der mittleren Bronzezeit (2004-1595 v. Chr.) neu besiedelt. Im 18. Jahrhundert v. Chr. war Shaghar Bazar eine der wichtigsten Städte des assyrischen Reiches. Ein bedeutendes Gebäude – vielleicht ein Palast – wurde teilweise ausgegraben und lieferte über 300 Tontafeln mit Verwaltungstexten. Die Stätte wurde in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. vollständig aufgegeben.

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Tall Shaghar Bazar, Blick auf den tiefer gelegenen Teil  des Talls, 2010 | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)
Children on the Tall of Shaghar Bazar
Kinder auf dem Tall Shaghar Bazar, 1989 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

In der Nähe von Tall Brak liegt Tall Baydar (Beydar) am Wadi Awayj, das den historischen Namen Nabada trägt. Inschriften von dort bezeugen, dass die Stadt vor allem im 3. Jt. v. Chr. bewohnt und im Jahre 2425 v. Chr. einer der Hauptorte des Königreichs von Nagar (Tall Brak) war. Europäisch-syrische Teams unternahmen aufgrund von dessen Wichtigkeit 16 Grabungskampagnen zwischen 1992 und 2010, die Aufschluss über eine große runde, gut befestigte Stadt mit sieben Toren gab. Diese wurde während der hellenistischen Zeit teilweise wieder benutzt.

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Tall Baydar, Teil des Talls südlich der Akropolis mit der „weißen Halle“, dem Tempel D und dem „südlichen Platz“, 2010 | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall Baydar, majestätische Treppe, die zur Akropolis, zu den Tempeln C, D und A sowie zum Palast, südlich der Oberstadt führt, 2010 | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)

Ende der siebziger Jahre untersuchte ein von Diederik Meijer geführtes niederländisches Team einen großen Teil des Khabur-Dreiecks, etwa zur gleichen Zeit führte eine Gruppe der Yale University Forschungen in und um Tall Laylan (Leilan) durch. Erkenntnisse und Funde beider Teams konnten die Jungsteinzeit über die wichtigsten Phasen des Alten Orients wie Obed-, Uruk- und Bronzezeit bis zur islamischen Epoche belegen.

Russische Archäologen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Erforschung des Oberen Khaburs. Der von ihnen entdeckte Tall Khazna liegt ca. 25 km nördlich von Hasaka am linken Ufer des Wadi Khanzir. Von 1988 bis 2000 führte ein russisches Team, geleitet von Rauf M. Munchaev, Grabungen durch, die eine charakteristische Architektur aus der Übergangszeit zwischen später Obed- und früher Uruk-Zeit bis zum 3. Jahrtausend ans Licht brachten.

Die Erforschung des Oberen Khabur wurde zwischen 1989 und 1991 von der französischen Mission unter der Leitung von Bertille Lyonnet fortgesetzt. Ziel dieser Kampagnen war es, die geoarchäologische Entwicklung der Region während des 2. Jts. v. Chr. zu beleuchten. Aufgrund des archäologischen Reichtums aus verschiedenen altorientalischen Epochen konnte die Mission sowohl die Geschichte der Stätten als auch die Entwicklung der Umwelt des Oberen Khabur rekonstruieren. Lyonnet untersuchte 64 Stätten, darunter einige aus dem präkeramischen und dem keramischen Neolithikum (8300-5600 v. Chr.) wie Tall al-Fukhayriyya (Fakhriyya) und Sikr al-Uhaymir. Die Mission konnte bemalte Halaf-Keramik (5600-5000 v. Chr.) von 40 Fundorten sammeln. Ihre Forschungen stellen einen weiteren maßgeblichen Hinweis zur dichten Besiedlung des Oberen Khaburs und dessen zentrale Rolle in der Halaf-Zeit dar. Zuvor hatte eine japanische Forschergruppe im Jahre 1985 einige wichtige Entdeckungen auf Tall Kashkashuk ebenfalls aus der Halaf-Zeit gemacht.

Tall Halaf with the Khabur-valley, seen from the northeast during the rainy season
Tall Halaf mit dem Khabur-Tal, Blick von Nordosten, während der regnerischen Jahreszeit, 1963 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, collection Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)
Main entrance.
Der Eingang des Nationalmuseums in Aleppo stellt eine Rekonstruktion des Palastes von Guzana (der heutige Tall Halaf) dar, 2002 | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall ʿArbid, Architektur, 2010 | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)

Der Siedlungshügel, dem diese Kultur ihren Namen verdankt, ist das am Ufer des Khabur gelegene Tall Halaf unmittelbar an der heutigen syrisch-türkischen Grenze. Der deutsche Diplomat und Archäologe Max von Oppenheim hatte 1893 diesen Hügel entdeckt, woraufhin er ab 1911 umfangreiche Ausgrabungen unternahm, die eine  Besiedlung des Ortes seit dem 6. Jahrtausend und eine Blütezeit im 5. Jahrtausend v. Chr. belegen. Anschließend ist der Ort lange Zeit unbewohnt gewesen, bevor zu Beginn des 1. Jts. v. Chr. Aramäer dort das Guzana-Königreich errichteten. Dieses überlebte den Untergang des assyrischen Reiches und blieb bis zur römischen und parthischen Zeit bestehen.

Neben den oben genannten Stätten gibt es im Oberen Khabur-Becken noch viele weitere Stätten, die von der großen Bedeutung der Region in der Geschichte des Alten Orients zeugen. Darunter auch Tall Barri, das seit 1980 von einer gemeinsamen italienisch-syrischen Mission unter der Leitung von Emilio Pecorella ausgegraben wird, und Tall ‘Arbid, das wichtige Funde aus dem 3.Jahrtausend v. Chr. zutage gebracht gebracht hat. Die Ausgrabungen wurden von einer polnisch-syrischen Mission unter Piotr Bieliński durchgeführt.

Urkesh, das heutige Tall Mozan, gehörte zu den Städten des Altertums, die vom 4. bis in die zweite Hälfte des 2. Jts. v. Chr. maßgeblich zur politischen Entwicklung des nördlichen Mesopotamien beitrugen. Dort kamen viele Bauten aus der akkadischen Zeit – im 3. Jahrtausend v. Chr., als die Stadt auf dem Gipfel ihrer Entwicklung war – zum Vorschein, darunter der Kumarbi-Tempel (2400 v. Chr.) und der alte königliche Palast (2300 v. Chr.). Giorgio Buccellati leitet seit 1984 nicht nur die syrisch-amerikanische Mission, sondern initiierte auch Projekte für einen öko-archäologischen Park und für die Herstellung kunsthandwerklicher Erzeugnisse durch Frauen aus den Dörfern der Region.

Die seit mehr als einem Jahrhundert anhaltenden Forschungen brachten viele wichtige Erkenntnisse mit sich und zeigen zu welch fortschrittlichen Kultur-, Gesellschafts- und Politikentwicklungen – vergleichbar mit dem Süden des Zweistromlandes – die syrische Jazira seit Ende des 5. Jts. v. Chr. gelangt war. Sie ist somit auch eines der ersten Zentren der Zivilisation des Nordens.

Die bedeutenden Rettungsgrabungen der wichtigsten Stätten des Khabur-Beckens vermitteln einen riesigen Pool ans Erkenntnissen – dennoch mussten viele von ihnen dem Wasser weichen. Es ist bedauerlich, dass sie viele Talls vollständig von den Stauseen des „Khabur al-Kabir Basin Irrigation Project” (Khabur-West, Hasaka-West, Hasaka-Ost) überflutet wurden – unter ihnen Tall Mashnaqa, Tall Ziyada, Tall Knaydij (Knedij), Tall Taban und Tall Bdiri. Andere Stätten wurden von den Fluten überschwemmt, bevor die Ausgräber sie erreichten, womit deren Geschichte untergegangen ist. Trotz dieses großen Verlustes gibt der Reichtum der Jazira an archäologischen Überresten Anlass zu Optimismus, denn viele andere Stätten warten noch auf  Ausgräber und werden uns hoffentlich neue Erkenntnisse über die Kulturen des Alten Orients liefern.

Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Westlicher Teil von Tall Mashnaqa – das Foto wurde 1998 nach der Flutung des Khabur-Stausees vom Boot aus aufgenommen | Dominique Beyer (CC-BY-NC-SA)
Die syrische Jazira – eine außergewöhnlich reiche archäologische Landschaft
Tall Taban, Fernblick auf den Hügel mit Khabur und Feldern im Vordergrund, 1984 | Deutsches Archäologisches Institut (CC-BY-NC-SA)
From the guest house the logs of the roof have already been removed, as the resettlement of the village Abu Hajayra was approaching
Vom Gästehaus wurden bereits die Rundhölzer des Daches entfernt, da die Umsiedlung des Dorfes Abu Hajayra bevorstand, 1990 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Beitragsbild: Tall Baydar, Tempel B mit gestaffelten Lisenen und einer Lehmziegelbank davor, 2010 | Hiba Bizreh (CC-BY-NC-ND)


[1]Eine systematische Grabung in Tall Umm Qsayr, 25 km südlich von Hasaka, erfolgte 1986 unter der Leitung von Frank Hole/Yale University.

[2]Der Tall befindet sich am rechten Khabur-Ufer, etwa 14 km südöstlich von Hasaka, und wurde zwischen 1988 und 1990 unter der Leitung von Georgio Buccellati/University of California ausgegraben. In den Jahren 1996 und 1997 übernahm ein Team der Yale University unter der Leitung von Frank Hole die Ausgrabung.


Autorenschaft von Hiba Bizreh: Hiba Bizreh ist Archäologin und arbeitet seit 2018 für das Syrian Heritage Archive Project. Sie hat 2015 an der Universität Straßburg (Frankreich) promoviert. In ihrer Doktorarbeit „Untersuchungen zur proto urbanen Periode in der Region Khabur“ befasste sie sich mit Tall Mashnaqa, einer Stätte, die sich durch kontinuierliche menschliche Besiedlung vom fünften (Obed-Periode) bis zum dritten Jahrtausend v. Chr. auszeichnet.

Al-Bara im Zawiya-Gebirge – die größte Ruinensiedlung der „Antiken Dörfer Nordsyriens“

von Eva Nmeir

Al-Bara ist Teil der UNESCO-Welterbestätte „Antike Dörfer Nordsyriens“, eingeschrieben 2011 und seit 2013 auf der „Liste des bedrohten Welterbes“. Von den 36 zugehörigen Welterbe-Einzelstätten in 8 Archäologischen Parks sind zehn im Bereich von al-Bara angesiedelt (Park Nr. 4 – „Jebel Zawiye 1“: al-Bara, Batrasa, Baʿuda, Bshalla, Dalluza, Majliya, Rabiʿa, Sirjilla, Shinshirah, Wadi Martahun).

Die frühbyzantinische Siedlung al-Bara (Kapropera) liegt im Jabal az-Zawiya (Zawiya-Gebirge) auf einer Höhe von ca. 675 m. Sie befindet sich in zentraler Lage in dem Talkorridor zwischen dem nordöstlichen und südwestlichen Teil jenes vergleichsweise großen und hohen Gebirges im Süden des nordsyrischen Kalksteinmassivs (Gouvernement Idlib). Das weitläufige Ruinengelände erstreckt sich an einem Osthang entlang der Talsenke Wadi al-Juz gegenüber der zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten Kleinstadt al-Bara (Abb. 1, 2). Die antiken Siedlungsruinen stehen inmitten von Pflanzungen, häufig Oliven- sowie Obstbaumkulturen; zumeist handelt es sich um kleinere Roterde-Parzellen mit Trockenmauern, durchsetzt von Felsen.

The extensive ruined settlement of al-Bara on a gently sloping valleyside in the middle of the Zawiya Mountain – view from the south-east, from the direction of Majiliya
Abb. 1: Die ausgedehnte Ruinensiedlung von al-Bara an einem sanft geneigten Talhang im Zentrum des Zawiya-Gebirges – Blick von Südosten, aus Richtung Majliya (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)
The modern small town of al-Bara seen from the direction of the ancient ruined settlement
Abb. 2: Die moderne Kleinstadt al-Bara gesehen aus Richtung der antiken Ruinensiedlung (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)

Al-Bara ist die größte der verlassenen antiken Siedlungen – der sogenannten Toten Städte – im Kalksteinmassiv (Abb. 3). Allgemein wird von mehr als 700 Orten ausgegangen, die heute noch vorhanden sind. Neben dem byzantinischen Dayr Samʿan (Telanissos) und Brad (Kaprobarada) sowie dem römischen Maʿiz weit im Norden des Hochlands wird diesem Ort ein städtischer Charakter zugeschrieben. Al-Bara erlangte in frühbyzantinischer Zeit, beginnend im 4. Jahrhundert, wesentliche Bedeutung als regionales, insbesondere wirtschaftliches und religiöses Zentrum des Jabal az-Zawiya. Verwaltungsmäßig war es über lange Zeit dem Bereich der Stadt Apamea am Rande der angrenzenden Ghab-Ebene zugeordnet (Apamene). Es bestand eine Anbindung im spätantiken Handelsstraßennetz Nordwest-Syriens, das sich zwischen den Metropolen Apamea im Süden, Antiochia im Nordwesten sowie Aleppo im Nordosten verzweigte.

Prominent succession of buildings in the ruined settlement of al-Bara – view from the south, on the right the smaller, on the left the larger of the two characteristic tombs with pyramidal roofs
Abb. 3: Prominente Gebäudefolge der Ruinensiedlung von al-Bara – Blick von Süden, rechts das kleinere, links das größere der beiden charakteristischen Grabmäler mit Pyramidendach (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Small pyramidal roofed tomb “Mausoleum B” (6th century), known locally as "as-Sawmaʿa", in the central area of the ruined settlement
Abb. 4: Kleines Grabmal „Mausoleum B“ (6. Jahrhundert) mit pyramidenförmigem Dach, vor Ort bekannt als „as-Sawmaʿa“, im zentralen Bereich der Ruinensiedlung (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)

Das lokale Einzugsgebiet umfasste eine Reihe kleinerer Ortschaften, beispielsweise Majliya und Batrasa, ebenso einige Klöster, zum Beispiel Dayr Subat, die etwas außerhalb der Siedlung lagen (Abb. 5, 6). Die landwirtschaftlichen Anbauflächen lieferten Erträge insbesondere aus der Oliven- sowie der Wein- und Weizenkultur, die vor Ort verarbeitet wurden. Aufgrund der günstigen topographischen Lage hatte al-Bara einen Brunnen – eine Ausnahme im wasserarmen Kalksteinmassiv, wo die Menschen in höherem Maße als im Tiefland von der Speicherung von Regenwasser in Zisternen abhängig waren.

Dayr Subat (6th century), a partially restored monastery ruin outside the south-western edge of the urban-like ruined settlement of al-Bara – view from the south
Abb. 5: Dayr Subat (6. Jahrhundert), eine teilweise restaurierte Klosterruine vor dem südwestlichen Rand der stadtartigen Ruinensiedlung von al-Bara – Blick von Süden (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)
Remains of the polygonal church (6th century) of Majliya, an important ruined village settlement in the southern neighbourhood of al-Bara
Abb. 6: Überreste der Polygonalkirche (6. Jahrhundert) von Majliya, einer bedeutenden dörflichen Ruinensiedlung in der südlichen Nachbarschaft von al-Bara (2008) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)

Von der Entwicklung des Dorfes, dem Wohlstand seiner Bewohner und den Fertigkeiten sowohl örtlicher als auch auswärtiger Bauwerkstätten zeugen eine große Dichte und Vielfalt von Bauwerken, die aus dem ortsüblichen Kalkstein in Quadersteinbauweise errichtet wurden: Die ältesten Gebäude werden auf die 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert. Eine Phase mit starker Bauaktivität wird vom 5. Jahrhundert bis zur 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts verzeichnet, speziell Wohngebäude wurden verstärkt bis ca. 470 gebaut. Auf diese Hochphase gehen eine große Zahl von Häusern (Beitragsbild), fünf Kirchen (Abb. 11 und 12), Klöster (Abb. 5), Grabbauten (Abb. 4, 9 und 10), Oliven- bzw. Weinpressen (Abb. 7, 8) und andere Bauten zurück.

Building with wine press, the room is filled with the beams and archstones of the collapsed ceiling
Abb. 7: Gebäude mit Weinpresse, der Raum ist mit den Balken und Bogensteinen der eingestürzten Decke angefüllt (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)
Outer wall of the wine press with the chute opening for the grapes and an inscription
Abb. 8: Außenwand der Weinpresse mit der Schüttöffnung für die Trauben sowie einer Inschrift (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)

Al-Bara wurde in islamischer Zeit gegen Ende des 12. Jahrhunderts verlassen; vorausgegangen waren zwei verheerende Erdbeben. Allerdings bestand es länger als die meisten Siedlungen im nordsyrischen Hochland, die ebenfalls in islamischer Zeit bis zum 9./10. Jahrhundert aus mehreren Gründen aufgegeben worden waren. Wie auch andere Ruinenstätten aus der Gruppe der Toten Städte vermag es einen außerordentlich authentischen und anschaulichen Eindruck von der gebauten Umwelt der Menschen, die dort in früheren Zeiten gelebt haben, zu vermitteln. Derartige historische Einblicke sind selten.

Large tomb "Mausoleum A" (6th century) with a pyramidal roof and rich stone carving decorations, known locally as "al-Mozawwaqa", in the west of the ruined settlement
Abb. 9: Großes Grabmal „Mausoleum A“ (6. Jahrhundert) mit pyramidenförmigem Dach und reichen Steinschnitzdekorationen, vor Ort bekannt als „al-Mozawwaqa“, im Westen der Ruinensiedlung (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Underground tomb complex (hypogeum) in the south-west of the ruined settlement, entrance with a round-arched arcade
Abb. 10: Unterirdische Grabanlage (Hypogäum) im Südwesten der Ruinensiedlung, Eingang mit Rundbogenarkade (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Viele der bestehenden, zum Teil monumentalen spätantiken Bauwerke haben seit ihrer Entstehung keine wesentlichen Veränderungen erfahren. Teilweise haben sie die rund 1500 Jahre bis heute erstaunlich gut überdauert. Sie geben nicht zuletzt Aufschluss über die frühchristliche Architekturentwicklung. Andere Bauten sind über die verschiedenen Epochen hinweg ihrer jeweiligen Nutzung entsprechend angepasst worden, was in einer unbewohnten Ruinensiedlung wie al-Bara gut zu erfassen ist. Archäologische Grabungen der Syrischen Antikendirektion (DGAM) zwischen 2007 und 2010 in einem zentralen Gebäudecluster legten frühbyzantinische Thermen und Teile einer möglicherweise frühabbasidischen Moschee frei. Aus den Thermen war in islamischer Zeit ein Hammam und schließlich ein Wohnhaus geworden.

al-Bara, Church of Saint Stephanos (E4), mid 6th c., West façade
Abb. 11: Vorhalle (Narthex) der Kirche des Hl. Stephanos (6. Jahrhundert), einer stark restaurierten Basilika im nördlichen Bereich der Ruinensiedlung (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
al-Bara, Church of Saint Stephanos (E4), mid 6th c., apse from the inside
Abb. 12: Inneres der Stephanos-Kirche mit Marmorsäulen und korinthischen Kapitellen – Blick durch das Mittelschiff auf die Apsis (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Die Denkmalsituation ist bestimmt von einer zunehmenden Häufung von Beschädigungen und Zerstörungen, wozu unterschiedliche Faktoren beitragen. Allgemein betrachtet ergeben sich diese aus der in den letzten Jahrzehnten verstärkten Neubesiedlung der Region und dem damit verbundenen Landverbrauch für Straßen- und Wegebau, Wohn- und Gewerbebauten sowie landwirtschaftliche Nutzflächen. Der Tourismus und unsachgemäße Restaurierungen von Monumenten, aber auch deren Abtragung als Baumaterial oder deren Ausplünderung für den illegalen Antikenhandel spielen ebenfalls eine Rolle für das Verschwinden des gebauten Kulturerbes.

The Great Mosque in the centre of the ruined settlement of al-Bara, one of several mosques dating back to construction phases in Early Islamic times
Abb. 13: Die Große Moschee im Zentrum der Ruinensiedlung von al-Bara, eine von mehreren, auf Bauphasen in frühislamischer Zeit zurückgehende Moscheen (1987) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)
The south wall of the Great Mosque with well-preserved prayer niche and decorative remains
Abb. 14: Die Südwand der Großen Moschee mit gut erhaltener Gebetsnische und dekorativen Überresten (1987) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)

Speziell von den militärischen Kampfhandlungen in Syrien seit 2011 und ihren verheerenden Auswirkungen war al-Bara früh und unmittelbar betroffen. In der Folge kam es zu Vandalismus und illegalen Grabungen. Vertriebene Familien besiedelten die Ruinen von Häusern und Gräbern auf der Suche nach einer Bleibe. Hinzu kamen verstärkte private Wohnbauaktivitäten wie auch der Bau von Militärunterkünften. Die Planierung des Ruinengeländes der al-Husn-Kirche zur Erweiterung einer Olivenpflanzung bildete einen besonders schwerwiegenden Eingriff (Abb. 15). Verschiedentlich sind Bestandsaufnahmen der entstandenen Schäden und erste Restaurierungen der historischen Bausubstanz erfolgt.

Al-Bara im Zawiya-Gebirge – die größte Ruinensiedlung der „Antiken Dörfer Nordsyriens“
Abb. 15: Beschädigtes Blattkapitell der al-Husn-Kirche (5. Jahrhundert) im nördlichen Randbereich der Ruinensiedlung von al-Bara. Die Überreste der monumentalen Basilika, deren Baudekoration seinerzeit prägend für die Architektur im Zawiya-Gebirge war, wurden in den letzten Jahren bis auf einige Teile abgeräumt (2017) | University of Tsukuba, Research Center for West Asian Civilization (CC-BY-NC-ND)

Beitragsbild: Blick über die spätantiken Ruinen eines Wohnhauses auf die moderne Kleinstadt al-Bara (2009) | Mazhar Ranne (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Eva Nmeir: Kunsthistorikerin mit besonderem Bezug zu Syrien. Sie bearbeitete für das Syrian Heritage Archive Project und seine Co-Projekte unter anderem die Weltkulturerbestätten „Altstadt von Aleppo“ und „Antike Dörfer in Nordsyrien“.

Minarette der Altstadt von Aleppo

von Eva Nmeir

Beim Blick auf die ummauerte Altstadt von Aleppo fallen besonders die zahlreichen Minarette ins Auge – Moscheetürme, deren Umrisse sich vor dem Hügel der gewaltigen Zitadelle abzeichnen. Und auch dort oben ragt an einer der höchsten Stellen ein solcher Turm in den Himmel: das 21 Meter hohe quadratische Minarett der Großen Moschee (Oberer Maqam Ibrahim), die der mächtige ayyubidische Herrscher von Aleppo az-Zahir Ghazi im 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr. erneuern ließ (Abb. 3). Seien sie quadratisch, vieleckig oder rund: Die Minarette in der Altstadt von Aleppo künden von Religionsausübung und Baupolitik in einer einzigartigen, historisch gewachsenen Stadtlandschaft und nicht zuletzt von der vielfältigen Architekturlandschaft Syriens.

The minaret of the Great Umayyad Mosque in the centre of the Old City of Aleppo – view to the west, behind it the three modern minarets of the President's Mosque can be seen
Abb. 1: Das Minarett der Großen Umayyaden-Moschee im Zentrum der Altstadt von Aleppo – Blick von Osten, dahinter sind die drei modernen Minarette der Präsidenten-Moschee zu erkennen (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
Die Trümmer des eingestürzten Minaretts der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo
Abb. 2: Die Trümmer des eingestürzten Minaretts der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo (2018) | Nabil Kasbo (CC-BY-NC-ND)

Insbesondere die hohen, aus dem ortsüblichen hellgrauen Kalkstein erbauten und teils aufwendig mit Steinmetzarbeiten verzierten Minarette prägen die Stadtansicht und setzen räumliche Betonungen. Gerade diese Minarette erlitten während des Krieges in Aleppo zwischen 2012 und 2016 oftmals erhebliche Schäden; der denkmalgerechte Wiederaufbau wird zum Teil noch lange andauern. Am bedeutendsten ist das quadratische Minarett der Großen Umayyaden-Moschee, der Hauptmoschee im Kern der ummauerten Altstadt, welches 2013 während Kampfhandlungen einstürzte (Abb. 1, 2). Mit über 900 Jahren gehörte es zu den ältesten Minaretten und stellte neben der Zitadelle das Wahrzeichen von Aleppo dar. Abgesehen von Krieg und Bränden waren im Laufe der Stadtgeschichte auch immer wieder Erdbeben dafür verantwortlich, dass Minarette beschädigt wurden und instandgesetzt beziehungsweise erneuert werden mussten.

The minaret of the Citadel's Great Mosque (Upper Maqam Ibrahim). The square shape is typical for early minarets
Abb. 3: Das Minarett der Großen Moschee (Oberer Maqam Ibrahim) auf der Zitadelle. Die quadratische Form ist typisch für frühe Minarette (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND
The minaret of the Jamiʿ Sharaf with street scene. The octagonal shape is typical for Mamluk mosques
Abb. 4: Das Minarett der Jamiʿ Sharaf mit Straßenszene. Die achteckige Form ist typisch für die Mamlukenzeit (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
The minaret of the Jamiʿ al-Bahramiyya overlooking the enclosed courtyard. The round pencil shape is typical for Ottoman mosques
Abb. 5: Das Minarett der Jamiʿ al-Bahramiyya über dem umbauten Moscheehof. Die runde Bleistiftform ist typisch für Minarette von Moscheen im osmanischen Stil (2009) | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)

Die außerordentliche stilistische Vielfalt der historischen Minarette trägt entscheidend zu dem unvergleichlichen Charakter der Altstadt von Aleppo bei (Abb. 3–5). Vom ausgehenden 5. Jahrhundert AH / 11. Jahrhundert n. Chr., als während der Herrschaft der Seldschuken-Sultane das Minarett der Umayyaden-Moschee entstand, über die Zeit der Zengiden und Ayyubiden bis hin zur Mamluken- und Osmanenzeit wirken unterschiedliche Bautraditionen und Dekoreinflüsse. Im westlichen Syrien haben die älteren Minarette üblicherweise einen quadratischen Querschnitt; wahrscheinlich entstanden die ersten nach dem Vorbild bestehender Kirchtürme.

The unique minaret of Aleppo’s Great Umayyad Mosque before its collapse
Abb. 6: Das einzigartige Minarett von Aleppos Großer Umayyaden-Moschee vor dem Einsturz (2006) | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)
Minarette der Altstadt von Aleppo
Abb. 7: Das Minarett der Großen Umayyaden-Moschee im Wiederaufbau, als Baumaterial werden Trümmersteine eingesetzt (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)

Das 45 Meter hohe, über einem quadratischen Grundriss von 4,95 Meter Seitenlänge errichtete Minarett an der nordwestlichen Hofecke der Großen Umayyaden-Moschee stammte aus den 480er Jahren AH / 1090er Jahren n. Chr. (Abb. 6, 7). Dieses Minarett, das seinerzeit wohl einen Vorgängerbau ersetzte, sollte jahrhundertelang das Höchste von ganz Aleppo bleiben. Trotz einer umfassenden Restaurierung vor einigen Jahren befand es sich vor seinem Einsturz in einer leichten Schieflage. Eine Wendeltreppe mit 140 Stufen führte zu dem balkonartigen Umgang für den Muezzin, den Gebetsrufer, hinauf. Darauf erhob sich ein kleiner kuppelüberwölbter Minarettaufsatz. Der in vier Zonen gegliederte Minarettschaft erfuhr besonders in den beiden Zonen unterhalb des Umgangs eine Betonung durch umlaufend vorgeblendete Profilbänder, die Bogenöffnungen andeuteten (Blendarkaden). Im Baudekor wurden damit örtliche Gepflogenheiten aufgegriffen, die auf die vorislamische Spätantike zurückgehen. Arabische Inschriften nannten unter anderem den Bauherrn Ibn al-Khashshab, den obersten Richter (qadi) der Stadt und Mitglied einer einflussreichen ortsansässigen Familie.

Historical photograph of the Mamluk Jamiʿ Altunbugha. The octagonal minaret clearly towers above the predominantly traditional buildings in the ancient city quarter of al-Aʿjam
Abb. 8: Historische Aufnahme der mamlukischen Jamiʿ Altunbugha. Das achteckige Minarett überragt deutlich die vorwiegend traditionelle Bebauung im Altstadtviertel al-Aʿjam (1978) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)
The octagonal Ayyubid brick minaret of the Great Mosque of Balis (Maskana) east of Aleppo at the Euphrates Valley
Abb. 9: Das achteckige ayyubidische Ziegel-Minarett der Großen Moschee von Balis (Maskana) östlich von Aleppo am Euphrat-Tal (1999) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

In mamlukischer Zeit entstanden mehrere zusätzliche Freitagsmoscheen mit beeindruckenden Minaretten. Das kriegsbeschädigte Minarett der Jamiʿ Altunbugha südöstlich der Zitadelle (gegründet 718 AH / 1318–19 n. Chr. von dem namensgebenden Gouverneur, Abb. 8) gliedert sich durch Muqarnas- (Wabenwerk) Friese in drei Zonen, ein überdachter Umgang bildet den oberen Abschluss. Kennzeichnend ist nun nicht länger ein quadratischer sondern ein achteckiger Schaftquerschnitt, wobei die quadratische Basis erhalten bleibt. Das achteckige ayyubidische Ziegel-Minarett von Balis-Maskana (frühes 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr., Abb. 9), gelegen am Rand des Euphrat-Gebiets – der syrischen Jazira (dem nordwestlichen Zweistromland) – auf halber Strecke zwischen Aleppo und ar-Raqqa im Osten, ist ein wichtiger Vorläuferbau für die neue Entwicklung in Aleppo. Diese steht vermutlich in maßgeblichem Zusammenhang mit der architektonischen Formentwicklung im ägyptischen Kairo, der mamlukischen Reichshauptstadt.

Die mamlukische Jamiʿ al-Utrush – Blick von Westen auf die Hauptfassade und das kriegsbeschädigte achteckige Minarett mit zwei Balkonen
Abb. 10: Die mamlukische Jamiʿ al-Utrush – Blick von Westen auf die Hauptfassade und das kriegsbeschädigte achteckige Minarett mit zwei Balkonen (2017) | Mayada (CC-BY-NC-ND)
The Jamiʿ al-Utrush with its newly rebuilt minaret
Abb. 11: Die Jamiʿ al-Utrush mit ihrem kürzlich wiederaufgebauten Minarett (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)

Die bedeutende, ebenfalls von einem mamlukischen Gouverneur von Aleppo gestiftete Jamiʿ al-Utrush (gegründet 801 AH / 1399 n. Chr.) am südlichen Fuß der Zitadelle besitzt ein Minarett mit zwei Umgängen, was innerhalb der Altstadt eine Ausnahme darstellt (Abb. 10, 11). Bei diesem während des letzten Jahrhunderts stark ausgebesserten und ebenfalls durch den Krieg beschädigten Minarett stehen zwei Schaftabschnitte unterschiedlichen Durchmessers übereinander. Hier klingen die Möglichkeiten der vielgliedrigen mamlukischen Minarett-Architektur von Kairo an.

The octagonal minaret of the Mamluk Jamiʿ as-Saffahiyya with rich architectural decoration
Abb. 12: Das achteckige Minarett der mamlukischen Jamiʿ as-Saffahiyya mit reichem Baudekor (2006) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Stefan Weber (CC-BY-NC-SA)
Das außergewöhnliche runde, großflächig verzierte Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Mihmandar vor seiner Zerstörung durch den Krieg
Abb. 13: Das außergewöhnliche runde, großflächig verzierte Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Mihmandar vor seiner Zerstörung durch den Krieg (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Über diese beiden schmucklosen Aleppiner Minarette hinaus gibt es in jener Zeitphase um einiges aufwendiger verzierte Minarette, wobei Profilband-Blendbögen und Muqarnas-Gesimse wiederkehrende Elemente darstellen (Abb. 12). Das Minarett der Freitagsmoschee Jamiʿ al-Mihmandar (Anfang bzw. Mitte 8. Jahrhundert AH / 14. Jahrhundert n. Chr.) nördlich der Zitadelle stach dabei ganz besonders heraus (Abb. 13). Der runde Hauptschaft war vollständig mit langen Rippen besetzt, in der unteren Zone gerade und der oberen im Zickzack verlaufend. Dieses herausragende Minarett war um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund einer leichten Schieflage aufwendig ab- und wieder aufgebaut worden. Während des Krieges wurde es schwer beschädigt und brach Ende 2016 zusammen.

The round minaret of the Jamiʿ ar-Rumi, in the uppermost section with severe war damages
Abb. 14: Das runde Minarett der Jamiʿ ar-Rumi, im oberen Abschnitt mit schweren Kriegsschäden (2017) | Alaaeddin Haddad (CC-BY-NC-ND)
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Abb. 15: Das wiederhergestellte Minarett der Jamiʿ ar-Rumi (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)
Große Moschee von ar-Raqqa/ar-Rafiqa, 8./12. Jh.
Abb. 16: Historische Aufnahme des runden zengidischen Ziegel-Minaretts der Großen Moschee von ar-Raqqa am Euphrat (1907) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Friedrich Sarre (CC-BY-NC-SA)

Ein zweites außergewöhnliches Minarett ist das Eckminarett der Jamiʿ ar-Rumi oder, nach dem Namen des Stifters, Jamiʿ Mankalibugha (beendet 769 AH / 1367 n. Chr.) südlich der Zitadelle (Abb. 14, 15). Der hohe, schlanke, sich nach oben hin leicht verjüngende runde Schaft ist vierzonig unterteilt; er wurde im oberen Bereich stark kriegsbeschädigt. Der seinerzeit für Aleppo ungewöhnliche runde Querschnitt erinnert an Bauten weiter östlich in Nordsyrien, am Euphrat in der Jazira-Region bzw. der Stadt ar-Raqqa (Abb. 16). Die dortigen Ziegel-Minarette verweisen wiederum auf die im Osten – im Irak und Iran – angestammte Minarettbau-Tradition. Die runde Bauform war außerdem in die seldschukisch-türkische Steinbau-Tradition von Anatolien, das im Norden angrenzt, eingebracht worden. Zugehörige Dekorelemente sind zum Beispiel Rippenmotive.

Minarette der Altstadt von Aleppo
Abb. 17: Historische Aufnahme der Jamiʿ al-ʿAdiliyya im osmanischen Stil mit großer zentraler Kuppel und hoch aufragendem rundem Minarett inmitten der dichten städtischen Bebauung, flankiert von den niedrigeren mamlukischen Minaretten der Jamiʿ as-Saffahiyya links und der Jamiʿ ar-Rumi rechts (1981) | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
The minarets of the Jamiʿ al-ʿAdiliyya (right) and the today completely destroyed Jamiʿ al-Khusrawiyya (centre), Aleppo's first Ottoman-style mosque, form an impressive visual axis - view from the west, on the left the octagonal minaret of the Mamluk Jamiʿ al-Utrush
Abb. 18: Die Minarette der Jamiʿ al-ʿAdiliyya (rechts) und der heute komplett zerstörten Jamiʿ al-Khusrawiyya (Mitte), bilden eine beeindruckende Sichtachse – Blick von Westen, links das achteckige Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Utrush (2007) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Stefan Weber (CC-BY-NC-SA)

Am Ende der Abfolge traditioneller historischer Minarettformen stehen die rund facettierten Minarette mit spitzem Kegeldach sowie breit über einem Muqarnas-Gesims auskragendem Balkon des osmanisch-türkischen Baustils. Diese fanden Eingang in Aleppo mit dem Minarett der Madrasa-Moschee Jamiʿ al-Khusrawiyya (beendet 953 AH / 1546–47 n. Chr.) im Zentrum der großen Stiftungsanlage des osmanischen Provinzgouverneurs Khusraw Pasha (Abb. 17, 18). Von Zeitzeugen wurden die hoch aufragenden bleistiftförmigen Minarette bewusst als osmanische Bauwerke wahrgenommen und durchaus auch als Sinnbilder osmanischer Herrschaft verstanden. Das erste dieser beeindruckenden Minarette ist heute verschwunden – die Khusrawiyya-Moschee wurde 2014 vollständig in die Luft gesprengt.

The modern ar-Rahman Mosque with its square double minarets in the new city of Aleppo, on a prominent site on the north-western arterial road – view from the southeast
Abb. 19: Die moderne ar-Rahman Moschee mit ihren quadratischen Doppelminaretten in der Neustadt von Aleppo, in exponierter Lage an der nordwestlichen Ausfallstraße – Blick von Süden (2003) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
The modern at-Tawhid Mosque with its four high minarets, each encircled by four balconies, in the north of al-ʿAziziyya at the road bridge over the Quwayq – view from the south
Abb. 20: Die moderne at-Tawhid Moschee mit ihren vier hohen, jeweils von vier Balkonen umschlossenen Minaretten – Blick von Süden. In direkter Nachbarschaft befinden sich zwei große Kirchen, der Bereich nordwestlich der ummauerten Altstadt beherbergt überwiegend christliche Viertel (2010) | Jürgen Rese (CC-BY-NC-SA)

Auf den ersten Blick heben sich die historischen Minarette der ummauerten Altstadt von Aleppo gegenüber modernen, aus Beton, Stahl und Glas erbauten Minaretten, beispielsweise in der benachbarten westlichen Neustadt, deutlich ab. Doch bei näherer Betrachtung ist es in hohem Maße ein überliefertes Repertoire an architektonischen Formen und Dekormotiven, auf welches die sehr hohen und ungleich auffälligeren Minarette von Moscheen wie der Jamiʿ ar-Rahman, der größten Moschee nordwestlich der Altstadt mit insgesamt drei quadratischen Doppelminaretten, oder der nördlich gelegenen Jamiʿ at-Tawhid mit ihren vier schlanken, gemischtförmigen Eckminaretten (Abb. 19 und 20, beide aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts) Bezug nehmen.


Beitragsbild: Die Altstadt von Aleppo – Blick von Westen Richtung Zitadelle, im Vordergrund ist das Minarett der Jamiʿ Sayf ad-Dawla zu sehen (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Eva Nmeir: Kunsthistorikerin mit besonderem Bezug zu Syrien. Sie bearbeitete für das Syrian Heritage Archive Project und seine Co-Projekte unter anderem die Weltkulturerbestätten „Altstadt von Aleppo“ und „Antike Dörfer in Nordsyrien“.

Seidenstoff und soziale Bindung in Syrien

  1. Seidenstoff und soziale Bindung in Syrien
  2. Silk Fabric and Social Ties in Syria
  3. Syrien, eine historische Textilgeschichte
  4. الأقمشة الحريرية والروابط الاجتماعية في سوريا
  5. تاريخ النسيج في سوريا
  6. Syria, a Textile History
  7. Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie
  8. صناعة الحرير بأيد عائلة دمشقية
  9. A Family of Damascene Silk Manufacturer
  10. The Art of Syrian Textile Production
  11. A Felt Carpet from al-Bab
  12. The Threads of Life: Syrian Textile Ornamentation
  13. Hidden Figures: The Women behind the Beautiful Craft of Aghabani
  14. The Ink That Lasts Forever: Textile Printing in Syria
  15. From Animals and Plants: Textile Raw Materials
  16. A Peek into Syria’s Sericulture World
  17. Insights into Syria’s Centuries-Old Silk Craft
  18. What Remains of the Silk Road?
  19. People of the Desert: Bedouin Clothing
  20. Carpets from Raqqa: A Memory
  21. Traditional Textiles: An Endangered Tradition
  22. Unforgotten: The Fragrance of Memories

von Florence Ollivry

„Wer Tarbusche verkauft, verkauft keine Quaste“, sagt das Sprichwort. In Damaskus ist der Textilsektor durch eine extreme Spezialisierung der Berufe gekennzeichnet. Dem zugrunde liegt die Vielfalt und Komplexität der verschiedenen Stadien, in denen der Seidenfaden gewebt werden kann.Nach dem Aufwickeln wird der Faden in der Regel an einen Handwerker in Aleppo geschickt, der auf das Zwirnen und Doublieren von Seidenfäden (barim), spezialisiert ist. Dann kehrt der neue verstärkte Faden nach Damaskus zurück. Anschließend wird er in die Werkstatt von Abu al-ʿIzz gebracht, die in der Ghuṭa zu finden ist. Dieser Färber ist der einzige unter seinen Kollegen, der sich auf das Färben von Brokatfäden spezialisiert hat. Der Faden wird mehreren Bädern unterzogen: Scheuern, Färben, Veredeln durch Appretur. Zurück in der Fabrik wird er auf Spulen (bakarat) oder auf einer Haspel (masura) aufgewickelt. Die Kette wird auf der großen Schärmaschine (msddaya) vorbereitet. Die Kette wird dann auf den Kettbaum gewickelt, der sich auf der Rückseite des Webstuhls befindet. Die Kettsetzer (msaddi oder mulqi) oder der Zwirner (mubariz) installieren die Kette.

In the dye workshop of Abu Al-Izz in Damascus
In der Färberei von Abu al-ʿIzz in Damaskus | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)
Bobbins with dyed silk yarn that can serve as warp or weft thread
Spulen mit gefärbtem Seidengarn, das als Kett- oder Schussfaden dienen kann | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Die Moderne integrieren, ohne sich selbst aufzugeben 

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Organisation der Arbeit in Damaskus in der Verantwortung der Berufszünfte. Jede wurde durch einen Kodex oder Brauch (dustur) geregelt. Dieser umfasste auch Aufnahmeriten und war gegenüber Einflüssen von außen relativ verschlossen; so war die Weitergabe des Handwerks oft erblich. Indem sie den Wettbewerb innerhalb des Berufsstandes einschränkte, neigte diese Form der Organisation dazu, Innovationen zu behindern und die Techniken stagnieren zu lassen. Das Zusammenleben aller Handwerker desselben Gewerbes innerhalb eines Bezirks beförderte eher einen Sinn für Solidarität, und nicht den Geist des Wettbewerbs: Über Jahrhunderte hinweg gab es daher eine erstaunliche Stabilität der Produktionsmittel. 

Ab Ende des 18. Jahrhunderts, als Europa sich immer mehr industrialisierte, wurde der syrische Markt von europäischer Seide überschwemmt und von ihr erschüttert. Die mächtige Handels- und Finanzorganisation der Lyoner Kaufleute förderte das Spinnen nach „europäischer Art” und entmutigte damit die Produktion von gesponnener Seide nach „arabischer Art”. Diese europäische wirtschaftliche und kulturelle Durchdringung führte zur tendenziellen Aufgabe der traditionell wallenden Bekleidung und damit auch zum Verschwinden bestimmter Stoffe.

The pattern of the later brocade is stamped into punched cards - an innovation introduced by Joseph-Marie Jacquard with his mechanised looms
Das Muster des späteren Brokats ist in Lochkarten eingestanzt – eine Innovation, die Joseph-Marie Jacquard mit seinen mechanisierten Webstühlen einführte | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)
Cloth rolls of the precious silk brocades
Stoffrollen der kostbaren Seidenbrokate | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Wie jedoch das von der Al-Qasimi-Familie verfasste Wörterbuch des Damaszener Handwerks belegt, widersetzte sich die dortige Gesellschaft dem Druck von außen: dem Eindringen neuer Techniken, ihrem sozialen Rahmen, ihren Gesetzen und ihrer Kultur. Sie machte sich aber die Elemente der Moderne, die sie bereichern konnten, zu Eigen ohne dadurch ihre lebenswichtige Organisation zu beeinträchtigen.

Durch die Nachfrage vor Ort nach „arabisch gesponnener“ Seide hat das syrische Kunsthandwerk altertümliche Techniken in den Spinnereien erhalten; sein Bedarf ließ einen Teil der Kokons aus dem Kreislauf des Großhandels herausfallen, was die Verbreitung der Spinnerei „auf europäischen Art“ behinderte. Die mächtige Bedürfnisgemeinschaft, die Handwerker und Käufer verband, blieb das Zeugnis einer starken kulturellen Identität. 1947 gab es in Aleppo noch 6.000 handbetriebene Webstühle, dagegen nur 1.500 mechanische Webstühle. Trotz der Einführung technischer Neuerungen blieben die Produktionsmethoden und Beziehungen eher traditionell.

Für Dominique Chevallier „hat die wirtschaftliche Innovation, die aus dem Ausland stammt, aber in ein klar definiertes menschliches und kulturelles Umfeld kommt, im Gegenzug zu einer beträchtlichen Stärkung dieses Umfelds geführt, das anfangs offenbar erschüttert war. Neue Grundlagen, Veränderungen, die sich sicherlich nicht vermeiden lassen, aber für eine Menschheit, die nicht verstanden hat, die ihre zukünftige Schöpfung nur in einer Kettenreaktion auf ihre vergangene Schöpfung akzeptiert hat…“ (Chevallier 1982, 157).

Bindungen aus Seide

Heute, wo kein Arbeiter sich mehr an korporative Initiationszeremonien erinnert, finden wir trotzdem noch traditionsbehaftete Grundprinzipien, die die verschiedenen Handwerker desselben Gewerbes miteinander verbinden (ḥirfa). Bis heute betrachten sich diese Weggefährten als echte Brüder, und der muʿallim (Meister der Kunst) wird wie ein Vater respektiert. Die Lehrzeit beginnt manchmal schon am Ende der Kindheit. In den ersten drei Jahren lernt der Neuling die Feinheiten des Handwerks kennen und erhält nur einen bescheidenen Lohn. Sein Verdienst wird erst allmählich steigen und am Ende seiner Laufbahn verfünffacht sein.

The Mattini weaving mill sells its own brocades and other textile products in the Bab Tuma district of Damascus
Die Weberei Mattini verkauft ihre eigenen Brokatstoffe und andere Textilprodukte im Damaszener Stadtteil Bab Tuma | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)
Seidenstoff und soziale Bindung in Syrien
Die Fäden werden vom Strang auf die Spulen gewickelt | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Das Fachgebiet jeder Person ist Teil eines gemeinsamen Ganzen. Seidenhandwerker arbeiten zusammen, um den gleichen Stoff zu weben. Die Summe ihrer Gesten, ihrer Arbeit, findet ihre Vollendung in der Begegnung von Kette und Schuss. Der Seidenstoff ist das Bild eines sozialen Bandes, eines sozialen Gefüges.

Seide hat diesem Textilvolk auch seine Namen gegeben. So ist die Erinnerung an das Handwerk eines entfernten Vorfahren väterlicherseits, der in der Textilindustrie arbeitete, noch in vielen Familiennamen ablesbar. Da im Damaskus des 18. Jahrhunderts ein Drittel aller Werkstätten und Geschäfte mit dem Textilgewerbe verbunden waren, finden sich heute noch häufig „textile“ Familiennamen und unterstreichen die Bedeutung dieser Tätigkeiten:

  • Al-Mulqi (der Einzieher, der die Kettfäden durch die Litzen führt) 
  • Al-Msaddi (der Kettsetzer) 
  • Al-Fattal (der die Fäden als Stränge auf die Haspel bringt) 
  • Al-Ghaṭṭas (der die Fasern spült) 
  • Al-Ḥallaj (der Baumwollkardierer) 
  • Al-Khayyat (der Schneider) 
  • Ash-Shashati (der Gazehändler) 
  • Al-Mashshat (der das Gewebe kämmt) 
  • Al-Makkukji (der Schiffchenmacher) 
  • Al-Hayik (der Weber)
  • As-Saqqal (der die Seide durch starke Walzen führt, um sie zum Glänzen zu bringen, Verb: calandrieren)
  • At-Ṭayyar (der Drechsler) 
  • Al-ʿAqqad (der Zwirnhersteller) 
  • Al-Ghazzal (der Spinner) 
  • Al-Alajati (der Alaja-Verkäufer) 
  • Ash-Shammaʿ (Hersteller von Wachstuch) 
  • Al-ʿAbbaji (Hersteller von ʿabaya) 
  • Al-Qaṭṭan (der Baumwollverkäufer)
  • Al-Lababidi (der Filzhersteller) 
  • Al-Qazzi (der Seidenraupenzüchter) 
  • At-Tabbaʿ (der Stempler) 
  • As-Sabbagh (der Färber)
  • Al-Kabbaba (der Seidenhaspler) 
  • An-Nuwaylati (der Handweber oder Zugwebstuhlweber) 
  • Al-Ḥariri (der Seidenhändler, eigentlich: der Seidige)
Master Fa’iz Zebbaq checks the punch cards in a weaving mill
Meister Fa’iz Zebbaq überprüft die Lochkarten in einer Weberei | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Featured Image: Ein Schärer (al-msaddi) setzt die Kettfäden auf dem mechanischen Webstuhl | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)


Autorenschaft von Florence Ollivry: In Syrien hat sich Florence Ollivry mit der Geschichte der Esskultur und der Seidenraupenzucht befasst. Sie ist Doktorin der Religionswissenschaften (Universität von Montréal; EPHE-PSL) und forscht derzeit über die mystische Dimension des Islam.

Erinnerungsorte des Völkermords an den Armenier:innen

von Karin Pütt

Mit einer Pilgerfahrt gedenken Armenier:innen aus aller Welt der Opfer der Todesmärsche 1915 und 1916. Zentrum dieses Gedenkens ist eine Erinnerungsstätte in Dayr az-Zawr, die während der Herrschaft des sogenannten IS stark geschädigt worden war. Sie konnte jedoch originalgetreu wieder aufgebaut werden. Unsere Autorin Karin Pütt nahm 2004 an der alljährlichen Pilgerfahrt teil.

Feierlich langsam zieht eine Prozession durch Aleppo. Tausende Armenierinnen und Armenier säumen die Straßen, Gruppen von Jugendlichen, Kirchendienern und Chorsängern in Ornaten gehen mit ihren geistigen Oberhäuptern, den Patriarchen von Kilikien und Armenien, zur Kirche der vierzig Märtyrer in der Altstadt. Längst nicht allen Menschen bietet die armenische Kirche der 40 Märtyrer Platz, eng gedrängt stehen sie auch im Hof und auf der Straße.  Jedes Jahr am 24. April gedenken die Armenier*innen weltweit der Toten des Genozids von 1915/16.

Erinnerungsorte des Völkermords an den Armenier:innen
Armenierinnen und Armenier jeden Alters nehmen an der großen Prozession in Aleppo teil, die an den Völkermord an ihren Vorfahren erinnert | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

1915 war Aleppo einer der großen Sammelpunkte, von denen aus die Deportierten in die Syrische Wüste nach Dayr az-Zawr geschickt wurden. Aus fast allen Teilen des Osmanischen Reiches waren die Menschen in oft schon Wochen dauernden qualvollen Todesmärschen hierher getrieben worden: Frauen, Kinder, alte Menschen.

Auffallend viele junge Menschen, aber auch ältere Armenier:innen aus Syrien, den umliegenden Ländern, aus Europa und Amerika sind zu den Gedenkfeierlichkeiten angereist. Im Anschluss an den Gottesdienst besteigen wir bereitstehende Busse, um zu den Orten des Todes des armenischen Volkes zu fahren. 

Dort wo heute die gut ausgebaute Landstraße in einigen Kilometern Entfernung parallel zum Euphrat verläuft, wurden in den Jahren 1915 und 1916 die Deportierten vorwärts getrieben. Sie starben am Wegrand und in den Lagern an Durst, Hunger, Erschöpfung, Misshandlungen und Krankheiten. Selbst in den Euphrat hatten sich damals Armenierinnen gestürzt, um von ihren Qualen erlöst zu sein. Bis heute erzählt man sich in den anliegenden Dörfern, wie über Wochen Leichen im Euphrat trieben.

Am Gedenkort in der heutigen Provinzhauptstadt Dayr az-Zawr am Euphrat, halten die Busse vor einem Bauwerk, das sich von den einfachen Betonbauten der Umgebung unterscheidet: Buntsandstein verkleidet die zweigeschossige Anlage mit schmalen, hohen Rundbogenfenstern im Obergeschoss und einer langen, nach oben führenden Treppe – die einzige Möglichkeit, die Anlage zu betreten. Die Treppe soll an den Leidensweg des armenischen Volkes erinnern. Im grellen Sonnenlicht erreichen die Menschen das gepflasterte Plateau, das ringsherum von Räumen, der Kirche und Arkaden begrenzt ist. Die Gedenkstätte der armenischen Märtyrer wurde vom syrisch-armenischen Architekten Sarkis Balmanoukian entworfen und 1991 eingeweiht.

The street facade of the Memorial - the concentration camp was once located in this part of Dayr az-Zawr
Die Straßenfassade des Memorials – das Konzentrationslager lag einst in diesem Teil von Dayr az-Zawr | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Armenians from Dayr az-Zawr waiting the pilgrims from Aleppo
Armenier:innen aus Dayr az-Zawr erwarten die Pilger:innen aus Aleppo | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Die Pilger:innen zieht es als Erstes in die himmelwärts strebende kleine Kirche, die die gesamte Anlage dominiert. Der Zentralbau mit achteckigem bzw. rundem Grundriss mit seinem mittigen Turm zeigt die typischen Elemente armenischer Sakralarchitektur: Fassaden aus Naturstein mit sparsamem geometrischem Bauschmuck und schmalen Rundbogenfenstern, die das Kircheninnere erhellen. Exakt in der Mitte des Innenraums steht eine weiße Marmorstele, die in einem ziselierten Kreuz, einem armenischen Chatschkar, ausläuft. Die Augen noch ortsunkundiger Pilger:innen gehen entlang der Stele nach unten: ein Loch im Fußboden gibt den Blick in die Krypta im Untergeschoss frei, wo am Fuß des Marmorpfeilers Gebeine liegen. In der Unterkirche sieht man von Nahem, dass die Gebeine auf Krumen jener Erde gebettet sind, in der sie gefunden wurden. Junge Leute stehen erschauernd vor diesen Knochen hinter Glas.

The church of the memorial on the 24th April 2004
Die Kirche des Memorials am 24.4.2004 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
The central stele in the lower church, around which bones of victims are kept
Die zentrale Stele in der Unterkirche, um die herum Gebeine von Opfern aufbewahrt werden | Wikimedia: CC BY 2.0

Die Gedenkstätte liegt auf dem Gelände des ehemaligen Lagers in Dayr az-Zawr.

Nur wenige der Jugendlichen zieht es in den kleinen Museumsraum nebenan. Ihnen sind die Daten, Fakten und Bilder des Genozids nur zu vertraut. Dort lerne ich einen jungen Armenier kennen, der auf eigene Faust Gebeine in Nordostsyrien ausgegraben hat, um dort Spuren armenischen Lebens nachzuweisen und die Knochen würdig zu bestatten.
Gegen drei Uhr nachts kommen weitere Busse mit Pilger:innen aus Damaskus und aus dem Libanon an. Nach einer kurzen Rast an der Gedenkstätte fahren sie zusammen mit den Aleppiner Bussen entlang des Euphratnebenflusses Khabur nach Norden. Eineinhalb Stunden passieren wir die karge Wüstensteppe, bis sich ein markanter kleiner Bergkegel abzeichnet. Am Straßenrand halten die Fahrzeuge, und hunderte Menschen strömen im Morgengrauen den Berg hinauf. Sie sammeln sich zu einer Messe vor der dortigen kleinen Kapelle. Erst im Jahr 1999 hatte die armenisch-orthodoxe Gemeinde sie dort errichten lassen. Hier, bei dem heutigen Ort Margada, wurden Tausende von Gebeinen gefunden, die von einem Massaker zeugen, das dort stattgefunden hat.

Pilgrimage of Armenians on the 24th April to the memorial of Marghada: Pilgrims digging for human remains in the earth
Wallfahrt der Armenier am 24.4. zur Pilgerstätte Marghada: Pilger graben nach menschlichen Überresten in der Erde | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Pilgrimage of Armenians on the 24th April to the memorial of Marghada
Wallfahrt der Armenier am 24.4. zur Pilgerstätte Marghada | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Es ist schon Mittag, als wir wieder zur Gedenkstätte nach Dayr az-Zawr zurückfahren. Im Hof singt der über fünfzigköpfige Kirchenchor aus Aleppo religiöse Lieder, bis der Hauptgottesdienst in der Kirche stattfindet. Dicht an dicht gedrängt stehen die Menschen und folgen dem Gottesdienst, der von den beiden Patriarchen zelebriert und nach draußen übertragen wird. Ein Raunen geht durch die Menge auf dem Hof, als sich die seitliche Kirchentür öffnet und die Patriarchen erscheinen. Gemessenen Schrittes schreiten sie zu einer Nische am Rande der Plattform und zelebrieren an der ewigen Flamme das Requiem für die Märtyrer. Für Armenier:innen auf der ganzen Welt steht der Name Dayr az-Zawr für den Versuch, ihr Volk zu vernichten. In dieser Stadt hat die Erinnerung einen würdigen Ort erhalten, der dank Spenden auch nach seiner teilweisen Zerstörung durch den sogenannten IS wieder aufgebaut werden konnte.

إنشاد جوقة حلب الأرمنية في ذكرى تخليد الأرمن في 24 نيسان عام 2004
Der armenische Chor aus Aleppo singt im Memorial am 24.4.2004 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Erinnerungsorte des Völkermords an den Armenier:innen
Armenische Jugendliche verteilen frisches Fladenbrot an die Pilgerinnen und Pilger | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Titelfoto: Am Völkermord-Gedächtnistag: bei einem Halt auf der Pilgerfahrt werfen armische Geistliche Kränze in den Euphrat, um an die Opfer des Genozids von 1915-16 zu erinnern, die gerade auch in diesem Fluss starben | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Karin Pütt: Karin Pütt arbeitet zu traditioneller Architektur und Kultur in Syrien. Im Zuge der Feldforschungen für ihre Doktorarbeit „Zelte, Kuppeln und Hallenhäuser – Wohnen und Bauen im ländlichen Syrien“ stieß sie auf das Thema der armenischen Waisen, die den Völkermord überlebt hatten und sich in der syrischen Jazira ansiedelten. Daraus entwickelte sich ein tieferes Interesse an armenischen Spuren in Syrien.

Seit 2013 gehört sie zum Team des Syrian Heritage Archive Projects des Museums für Islamische Kunst in Berlin.

Syrien, eine historische Textilgeschichte

  1. Seidenstoff und soziale Bindung in Syrien
  2. Silk Fabric and Social Ties in Syria
  3. Syrien, eine historische Textilgeschichte
  4. الأقمشة الحريرية والروابط الاجتماعية في سوريا
  5. تاريخ النسيج في سوريا
  6. Syria, a Textile History
  7. Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie
  8. صناعة الحرير بأيد عائلة دمشقية
  9. A Family of Damascene Silk Manufacturer
  10. The Art of Syrian Textile Production
  11. A Felt Carpet from al-Bab
  12. The Threads of Life: Syrian Textile Ornamentation
  13. Hidden Figures: The Women behind the Beautiful Craft of Aghabani
  14. The Ink That Lasts Forever: Textile Printing in Syria
  15. From Animals and Plants: Textile Raw Materials
  16. A Peek into Syria’s Sericulture World
  17. Insights into Syria’s Centuries-Old Silk Craft
  18. What Remains of the Silk Road?
  19. People of the Desert: Bedouin Clothing
  20. Carpets from Raqqa: A Memory
  21. Traditional Textiles: An Endangered Tradition
  22. Unforgotten: The Fragrance of Memories

von Florence Ollivry

Seit bald 5.000 Jahren sehen Menschen in der Zusammenführung von Ketten- und Schussfäden eine Metapher der Ehe: so trug Gilgamesch an seinem Hochzeitstag einen Gürtel, der symbolisierte, was verbunden ist. In der mesopotamischen Tradition ist das Weben als Sinnbild des Daseins in Situationen präsent, in denen der Schwerpunkt auf dem Beginn eines Prozesses (wie dem Ziehen, Spinnen, Schären) und seinem Ende (dem Weben und Falten) liegt.

Sea silk is traditionally obtained from the treads of the fan mussel (pinna nobilis)
Muschelseide wird traditionellerweise aus den Fäden der Steckmuschel (pinna nobilis) gewonnen | John Hill (CC BY-SA 3.0)

Die erste in Syrien gewebte Seide war Muschelseide (byssus), deren Spuren seit mehr als 2000 Jahren bezeugt sind. Diese vermeintlich goldenen Seidenfäden ermöglichen es den großen Muscheln der Gattung Pinna, sich an Felsen festzuhalten. Selten und schwer zu ernten, war Byssusseide ein Luxusmaterial, das hochrangigen Personen vorbehalten war. 

Was die Seide der Raupe des Echten Seidenspinners (Bombyx mori) betrifft, so begleitete ihr Erscheinen das Aufkommen des Islam in Syrien. Die Verbreitungsregion der Seidenraupenzucht fällt ungefähr mit dem 40. Breitengrad der nördlichen Hemisphäre zusammen: In diesen Regionen bieten sich klimatische Bedingungen, die für den Anbau von Maulbeerbäumen und die Aufzucht von Seidenraupen notwendig sind. Die Berge, Täler und Küsten des westlichen Syriens gehören zu den Gebieten, die für die Aufnahme der Seidenraupenzucht prädestiniert sind. 

Der textile Luxus, der sich in den Großstädten zur Zeit der Kalifen entwickelte, führte zu einer intensiven Tätigkeit in Webereien, insbesondere in Damaskus. Als Antwort auf diese Bedürfnisse blühten der Anbau von Maulbeerbäumen und der Seidenbau (Serikultur) als Ganzes auf. In der islamischen Welt wurde Seide schon früh verwendet, um die Heiligtümer und religiösen Gebäude selbst, wie z.B. die Kaʿba in Mekka, wie heilige Körper zu umhüllen. Die Kaʿba war unter den Umayyaden mit weißem Brokat und unter den Abbasiden mit schwarzem Brokat mit farbigen Fäden, Gold und Silber überzogen. Die Tuche der Kiswa, die aus den Werkstätten der Kalifen kamen, wechselten mit den Meistern der Zeit ihre Farbe und erlaubten eine „politische“ Sprache. Die Ehre, die Kiswa bereitzustellen, wurde zum Symbol der islamischen Souveränität. Die Brokate für die Kaʿba wurden in den ṭiraz der Kalifen gewebt, d.h. in den Webereien, die sich in ihren Palästen befinden. Das Wort ṭiraz bezog sich zunächst auf ein Band mit gestickten Inschriften auf den Gewändern der Herrscher. Diese Inschriften galten als Propagandainstrument für die Herrscherdynastie, insbesondere wenn sie auf dem Tuch der Kaʿba verbreitet wurden. Im Jahr 661 wurde Damaskus zur Hauptstadt des Umayyaden-Reiches und 665 entstand dort bereits die erste Werkstatt für ṭiraz.

Silk cover of the Kaaba in Mecca (kiswa) woven in Cairo in 1606 AD (1015 AH)
Seidener Behang der Kaaba in Mekka (kiswa), der 1606 AD (1015 AH) in Kairo gewebt wurde | Khalili Collections (CC-BY-SA 3.0 IGO)

Der Brauch, prunkvolle Kleidung zu schenken, entsprach einer politischen Sprache. So boten die Damaszener 1260 den Mongolen Mengen kostbarer Seide an. Die Tätigkeit der Damaszener Webereien setzte die Tradition der byzantinischen Manufakturen fort. Diese Seiden waren vor allem für Pilger gedacht, die nach dem Besuch der heiligen Stätten kostbare syrische Stoffe in ihre Heimat zurückbringen wollten.

Syrien, eine historische Textilgeschichte
Ausschnitt aus dem Gemälde „Madonna mit dem Kind“ von Cima da Conegliano mit pseudo-arabischer Schrift in der Stickerei, 1495 | Gemeinfrei

Europäische Maler des 13. bis 16. Jahrhunderts, insbesondere Italiener, entdeckten diese Stoffe, bewunderten sie und stellten sie in ihren Gemälden dar. Offensichtlich hatten sie keine Arabischkenntnisse, denn die Bordüren von ṭiraz waren zu Ehren des Propheten Muḥammad und der Kalifen gestickt, und brachten Segenssprüche oder Koranverse zum Ausdruck. Fasziniert von der Ästhetik dieser kalligrafischen Inschriften imitierten christliche Maler sie ohne sie zu verstehen und übertrugen sie als pseudo-arabische Kalligrafie in die christliche Kunst (vgl. Duccio di Buoninsegna, Giotto, Cima da Conegliano, Gentile de Fabriano, Masaccio usw.).

Es erweist sich die Geschichte der islamischen Seide, die in den Schätzen der Kirchen von Passau, Trier, Köln, Mailand, Prag, Rom, St. Josse sur Mer, Aix, Sens, Nancy, Apt und Cadouin aufbewahrt wird, oft als mit der Geschichte der Kreuzzüge verbunden. Die Beteiligung muslimischer Textilien am Reliquienkult im mittelalterlichen Westen ist ein wichtiges Phänomen: Ohne die religiöse Bedeutung dieser Stoffe zu kennen, wurden sie als schön empfunden, und die Reliquien von Heiligen und Bischöfen in sie eingewickelt.

Wie Jocelyne Dakhlia schreibt, lässt uns die Erinnerung an diesen Austausch erkennen, dass „wir auch die gleiche Geschichte teilen, gewebt aus den gleichen Fäden, gewebt von den gleichen Männern und Frauen“ (Dakhlia 2009, p. 18). Der Konflikt „darf uns nicht daran hindern, die Linien der Kontinuität, die gemeinsamen Vermächtnisse zu begreifen und zu sehen, die bedeuten, dass wir auf beiden Seiten auch Teil derselben Geschichte sind, in einer Geschichte derselben“ fährt sie fort (Dakhlia 2009, p. 22).

Im Metropolitan Museum of Art in New York gibt es eine syrische Stola. Um 1336 gewebt, wurde diese blaue Seiden-Batraschil von den Mönchen mit einem Längsschlitz überzogen und sowohl auf der Rückseite als auch auf der Vorderseite verlängert. An den Rändern der Stola wurden Inschriften in der Art der muslimischen ṭirâz gestickt. Sie trägt den Namen von Athanasius Abraham Yaghmur, Bischof von an-Nabk und Schreiber im Kloster Mar Musa. 

Teppiche, Schleier, Vorhänge, Kissen, Armbänder, liturgische Gewänder: Die gewebte Faser ist ein Zeichen von Eifer, von Frömmigkeit. Das „Gewebe“ aus Fasern verbindet das Menschliche mit dem Göttlichen, verkörpert diese „religiöse“ Bindung und materialisiert das Heilige. Der Teppich ist eine Unterlage, die den Gläubigen vom Boden trennt, ein Stück Land durch einen anderen heiligen Raum ersetzt und Extraterritorialität gewährleistet. Die Menschen, nebeneinander kniend, dicht beieinander, bilden durch dieses Gebet ein Tuch, einen Teppich.

Was den Schleier betrifft, der die Distanz zwischen dem Profanen und dem Sakralen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Menschlichen und dem Göttlichen, dem Zugänglichen und dem Unzugänglichen, dem Verborgenen und dem Offenbarten materialisiert, so ist er einerseits das Erbe des byzantinischen Christentums, in dem die Ikonen und der Chor verschleiert sind, und andererseits das der sassanidischen Tradition und des persischen Kulturraums. 

Seit den Anfängen des Islam ist die Kaʿba in Mekka mit ihrer Kiswa bedeckt, die Schreine sind mit kostbaren Stoffen überzogen, die Verstorbenen werden in ein Leichentuch gehüllt, der Teppich dient als Träger des Gebets: der Stoff materialisiert den Übergang von einer zeitlichen zu einer spirituellen Dimension. 

Prayer rug made in Turkey in the first half of the 16th century
Gebetsteppich, der in der ersten Hälfte des 16. Jh. in der Türkei entstand, und heute im Museum für Islamische Kunst, Berlin, ausgestellt ist 2013 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz (CC-BY-NC-SA)
Part of the liturgical silk stola of the Bishop of an-Nabk,
Teil der liturgischen Seidenstola des Bischofs von an-Nabk, Athanasius Abraham Yaghmur, auf dem die Lebensstationen von Jesus dargestellt sind, 14.Jh. (Metropolitan Museum New York) | Gemeinfrei

In der muslimischen Welt bilden Textilfasern das Mobiliar der Innenräume, insbesondere der Empfangs- und Ruhezonen, die mit Bänken, Sofas, Kissen und Teppichen dekoriert sind, die auf dem Boden ausgebreitet oder an den Wänden aufgehängt werden. 

In Anlehnung an einen Ausdruck von Maurice Lombard, der die arabisch-muslimische Welt als „textile Zivilisation“ beschreibt (Lombard 1978, p. 253), können wir syrische Geschichte auch als „Textilgeschichte“ begreifen, der das Schicksal der Textilfasern zugrunde liegt.

Textile Sitzgelegenheiten in einem ländlichen Wohnraum im Euphrat-Tal
Textile Sitzgelegenheiten in einem ländlichen Wohnraum im Euphrat-Tal | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Featured image: Seidenatlas aus der Produktion der Fa. Mattini in Damaskus | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)


Autorenschaft von Florence Ollivry: In Syrien hat sich Florence Ollivry mit der Geschichte der Esskultur und der Seidenraupenzucht befasst. Sie ist Doktorin der Religionswissenschaften (Universität von Montréal; EPHE-PSL) und forscht derzeit über die mystische Dimension des Islam.

Hohe Säulen und massive Pfeiler – die Großen Umayyaden-Moscheen von Damaskus und Aleppo

von Eva Nmeir

Die Hauptmoscheen von Damaskus und Aleppo bilden jeweils den ausgedehnten, belebten Kern der dicht bebauten historischen Altstadt dieser größten und traditionsreichsten syrischen Städte. Beide sind unter dem Namen „al-Jamiʿ al-Umawi al-Kabir“ („Große Umayyadische Freitagsmoschee“) bekannt. Sie wurden vor rund 1300 Jahren gegründet, als das Kalifat der Umayyaden (41–132 AH / 661–750 n. Chr.) auf dem Höhepunkt seiner Macht war und von Syrien mit Damaskus als Hauptstadt das erste arabisch-islamische Großreich regiert wurde. Noch heute zählen sie zu den bedeutendsten Gebetshäusern der Welt.

Die Große Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Damaskus – Gesamtsicht von Nordwesten. Im Süden des umbauten Hofes die Gebetshalle mit Querhaus-Kuppel, an der linken bzw. rechten Ecke das „Jesus-Minarett“ und das „Qaytbay-Minarett“ sowie auf der Nordseite das „Minarett der Braut“
Abb. 1: Die Große Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Damaskus – Gesamtsicht von Nordwesten. Im Süden des umbauten Hofes die Gebetshalle mit Querhaus-Kuppel, an der linken bzw. rechten Ecke das „Jesus-Minarett“ und das „Qaytbay-Minarett“ sowie auf der Nordseite das „Minarett der Braut“ (1998) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Altstadtansicht mit Umayyaden-Moschee im Zentrum
Abb. 2: Die Große Umayyaden-Moschee in der Altstadt von Aleppo – Gesamtsicht von Südwesten. Im Süden des umbauten Hofes die Gebetshalle mit zentraler Kuppel und an der Nordwestecke das Minarett (2007) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Stefan Weber (CC-BY-NC-SA)

Beide Moscheen entstanden Ende des 1. Jahrhunderts AH / Anfang des 8. Jahrhunderts n. Chr. in Form einer Hofmoschee mit querrechteckigem Grundriss und einer tiefen Gebetshalle (Haram) entlang der südlichen, Mekka zugewandten Seite; das ursprüngliche Vorhandensein der schmäleren, den Hof (Sahn) umlaufenden Hallen (Riwaq) ist für Damaskus belegt (Abb. 1, 2). Tatsächlich erfuhren die Ursprungsbauten jeweils eine ganz eigene Entwicklung – Zerstörungen durch Krieg, Feuer oder Erdbeben waren häufig, ihre Erneuerung bzw. Instandsetzung gehört bis heute zu den vornehmsten Bauaufgaben höchster Machthaber. Während die Damaszener Umayyaden-Moschee durch die jüngsten Kriegshandlungen in Syrien nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist die Aleppiner Moschee stark beschädigt.

In einzigartiger Weise spiegeln die Bau- und Dekorstile Syriens wechselvolle, vielschichtige Geschichte wider. Sie zeugen auch von den unterschiedlichen geographisch-politischen Grundbedingungen, denen die Städte Damaskus und Aleppo in der Mitte bzw. im Norden des Landes unterworfen waren. Eine nähere Betrachtung dieser beiden außergewöhnlichen Bauwerke erschließt einige grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Die Große Umayyaden-Moschee von Damaskus

Die Eingangsfassade der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus mit mosaikgeschmücktem Querhaus-Portal
Abb. 3: Die Eingangsfassade der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus mit mosaikgeschmücktem Querhaus-Portal – Blick nach Südosten (2009) | Andreas Beckermann (CC-BY-NC-SA)
Das Innere der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus mit ihren beiden doppelgeschossigen Säulenarkaden – Blick nach Osten
Abb. 4: Das Innere der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus mit ihren beiden doppelgeschossigen Säulenarkaden – Blick nach Osten (1983) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)

Der Schrein im südöstlichen Teil der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus
Abb. 5: Der Schrein im südöstlichen Teil der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus (2010) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Die Große Umayyaden-Moschee von Damaskus (Abb. 1, 3, 4) ist der älteste erhalten gebliebene Moscheebau. Wesentliche Grundzüge von Architektur und dekorativer Ausgestaltung sind – wenn auch nur bedingt in der alten Bausubstanz – beibehalten. Diese Große Moschee wurde von Kalif al-Walid ibn ʿAbd al-Malik in Auftrag gegeben und 96 AH / 715 n. Chr. fertiggestellt. Der Bau nutzt die Umfassungsmauer des antiken römischen Jupiter-Tempels, unter dem die Überreste des aramäischen Hadad-Tempels liegen. Die spätantike, Johannes dem Täufer geweihte Bischofskirche auf diesem Grund wurde abgetragen, das Material weitergenutzt. Das Haupt des Heiligen bzw. Propheten (Yuhanna al-Maʿmadan, im Koran Yahya) soll im Schrein der Moschee verwahrt sein. Er ist ein bedeutender Pilgerort für Muslime und Christen (Abb. 5).

Die Umayyaden-Moschee, deren Länge und Breite 100 x 157,5 m betragen, ermöglicht den Blick auf die Anfänge monumentaler Moscheearchitektur. Diese bildete sich in Syrien im Kontakt mit der angestammten spätantik-frühbyzantinischen Bautradition aus. In Anklang an den Kirchentypus der Basilika verlaufen in der weiten und lichten Gebetshalle parallel zur Langseite hohe, doppelgeschossige Bogenreihen, die drei Schiffe bilden und das Dach tragen; sie ruhen auf je 20 großen, wiederverwendeten Säulen mit korinthischen Kapitellen (Abb. 4). Allerdings ist die Moschee anders ausgerichtet: Ein rechtwinklig dazu durchlaufender, breiter und hoher Querbau (Transept) mit Kuppel betont den Raum vor einer zentralen Gebetsnische (Mihrab) in der südlichen Qibla-Wand. Diese bezeichnet den Standort des Vorbeters – beim damaligen Freitagsgebet war dies oftmals der Kalif (Abb. 1, 3, 6).

Die Gebetsnische und die Kanzel im Zentrum der marmorverkleideten Südwand in der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus
Abb. 6 : Die Gebetsnische und die Kanzel im Zentrum der marmorverkleideten Südwand in der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus (2005) | Wolfgang Mayer (CC-BY-NC-ND)

Historische Aufnahme von Gebetsnische und Kanzel
Abb. 7: Historische Aufnahme von Gebetsnische und hölzerner Kanzel (1918) | Bayerisches Hauptstaatsarchiv (CC-BY-NC-SA)

Das „Minarett der Braut“ auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes neben dem Nordtor, das „Jesus-Minarett“ an der südöstlichen Ecke der Gebetshalle und das südwestliche „Qaytbay-Minarett“ entstanden in mehreren, mindestens in das 3. Jahrhundert AH / 9. Jahrhundert n. Chr. – in abbasidische Zeit – zurückreichende Bauphasen (Abb. 1). Die beiden erstgenannten Moscheetürme haben einen klassischen quadratischen Schaft mit verschiedenförmigen Aufsätzen, der letztere Eckturm ist achteckig. Dieses stilistisch einheitliche Minarett war zuletzt Ende des 9. Jahrhunderts AH / 15. Jahrhunderts n. Chr. durch den mamlukischen Sultan Qaytbay wiederaufgebaut worden.

Wanddekorationen aus zweizonig übereinander gesetzten Marmorplatten und Goldgrundmosaiken gehören zu den charakteristischen Dekorelementen des Ursprungsbaus. Dies geht auf byzantinischen Einfluss zurück. Einige wenige originale und originalgetreue Teile entgingen dem letzten verheerenden Großbrand von 1893, in osmanischer Zeit, weitere Mosaiken wurden später freigelegt. Insbesondere das Innere der Gebetshalle weist heute einen in wesentlichen Details veränderten Dekorcharakter auf (Abb. 6, 7).

Goldgrundmosaik mit Landschaftsdarstellung (Ausschnitt) im oberen Innenwandbereich der westlichen Hofhalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus
Abb. 8: Goldgrundmosaik mit Landschaftsdarstellung (Ausschnitt) im oberen Innenwandbereich der westlichen Hofhalle der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus (1998) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Die Glasmosaiken an der beherrschenden Dreiecksgiebelfassade des Querbaus und entlang der westlichen Hofhalle zeigen pflanzliche Motive sowie großflächige Garten-, Fluss- und Gebäudelandschaften (Abb. 3, 8). Anders als in der christlich-antiken Tradition wird auf die Darstellung von Lebewesen aufgrund des religiösen baulichen Zusammenhangs verzichtet. Interessanterweise griff man in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts AH / 13. Jahrhunderts n. Chr. bewusst auf diese kostbare Dekortechnik zurück, um das Mausoleum des ersten Mamluken-Sultans Baybars in der benachbarten Madrasa az-Zahiriyya angemessen zu schmücken.

Großartigkeit und Pracht der Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus beeindrucken und wirken bis in unsere Zeit. Sie gilt als Inbegriff des hochstehenden islamischen Kulturerbes von Syrien und in religiöser Hinsicht als eines der ehrwürdigsten Gebetshäuser des Islams. Architekturhistorisch ist die monumentale Moscheeanlage mit ihrer breitgestreckten Gebetshalle von zentraler Bedeutung insbesondere für die syrische Architekturregion und die nachfolgenden Entwicklungen frühislamischer Stützenmoscheen, darunter einige der eindrucksvollsten Freitagsmoscheen im südlichen Mittelmeerraum sowie die durch die Umayyaden-Herrscher von Al-Andalus (muslimisches Spanien und Portugal) gebaute Große Moschee von Cordoba.

Die Große Umayyaden-Moschee von Aleppo

Die Eingangsfassade der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo, ihr zentrales Portal mit vielfarbigem Steindekor, – Blick nach Südosten
Abb. 9: Die Eingangsfassade der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo, ihr zentrales Portal mit vielfarbigem Steindekor – Blick nach Südosten (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
Hohe Säulen und massive Pfeiler – die Großen Umayyaden-Moscheen von Damaskus und Aleppo
Abb. 10: Das Innere der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo mit ihren beiden gewölbten Pfeilerarkaden – Blick nach Osten (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)

Die Große Umayyaden-Moschee von Aleppo (Abb. 2, 9, 10) entstand mit kurzem zeitlichen Abstand zu jener von Damaskus um 96 AH / 715 n. Chr. Sie geht möglicherweise ebenfalls auf al-Walid I. oder auf seinen Nachfolger Sulayman ibn ʿAbd al-Malik zurück. Hier wurde ein Geländeteil der byzantinischen Bischofskirche Sankt Helena als Standort gewählt. In der antiken Stadt war dies vermutlich der Standort des zentralen öffentlichen Platzes – des römischen Forums bzw. der griechisch-hellenistischen Agora. Der Ursprungsbau ist vollständig verloren. Er soll einer späteren historischen Quelle zufolge nach dem Vorbild der Damaszener Moschee ausgestaltet gewesen sein.

Die heutige Große Moschee misst 77,75 x 105 m und ist damit annähernd halb so groß wie die Damaszener Moschee. Sie geht in erster Linie zurück auf die Bau- und Erweiterungsmaßnahmen durch den zengidischen Sultan Nur ad-Din sowie die Bauaktivitäten in ayyubidischer und schließlich frühmamlukischer Zeit (zwischen der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts AH / 12. Jahrhunderts n. Chr. und dem Ende des 7. Jahrhunderts AH / 13. Jahrhunderts n. Chr.). Ihr Schrein ist dem Propheten Zakariya, Vater des Propheten Yahya, gewidmet (Abb. 11). Dessen Inhalt war von Sultan Baybars nach der Zerstörung Aleppos durch die Mongolen 658 AH / 1260 n. Chr. aus der Maqam Ibrahim-Moschee auf der Stadtburg in die Umayyaden-Moschee verbracht worden.

Der Schrein in der Mitte der Südwand, angrenzend an die Gebetsnische, in der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo
Abb. 11: Der Schrein mit vielfarbigem Stein- und Fliesendekor in der Mitte der Südwand, angrenzend an die Gebetsnische, in der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
Hohe Säulen und massive Pfeiler – die Großen Umayyaden-Moscheen von Damaskus und Aleppo
Abb. 12: Die Gebetsnische und die hölzerne Kanzel in der Mitte der Südwand in der Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo (2006) | Rami Alafandi (CC-BY-NC-SA)

Die dreischiffige Gebetshalle erhielt ihre letzte Gestalt im Rahmen des 684 AH / 1285 n. Chr. abgeschlossenen Wiederaufbaus durch den mamlukischen Sultan Qalawun. Dabei wurden alle Säulen durch Pfeiler ersetzt. Zwischen vier Reihen zu je 20 quadratischen Pfeilern spannen sich nun Kreuzgratgewölbe (Abb. 10). Dies vermittelt Besuchern einen ebenmäßig geschlossenen, wenn auch etwas gedrungenen Raumeindruck und wirkt durch den geringen Lichteinfall feierlich. Einzig der Gang zwischen dem Eingangsportal und der Hauptgebetsnische ist ein wenig breiter als die übrigen und wird durch eine Kuppel gekennzeichnet (Abb. 9, 12).

Insgesamt trägt die beeindruckende Steinarchitektur, deren Dekor aus Steineinlagen und -reliefs auf die wichtigsten Bauelemente beschränkt ist, einen nüchternen Charakter (Abb. 9–12). Dem Vorbild dieser überwölbten Gebetshalle folgend wurden wichtige Freitagsmoscheen in Aleppo und anderen Städten der westlichen syrischen Architekturlandschaft neu gebaut oder umgestaltet. Pfeiler und kreuzgewölbte Decken gehören ebenfalls zu den typischen Elementen der mittelalterlichen Kreuzfahrer-Architektur Syriens und des östlichen Mittelmeerraums.

Das Innere der kriegszerstörten, geräumten und in Restaurierung befindlichen Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo – Blick nach Westen
Abb. 13: Das Innere der kriegszerstörten, geräumten und in Restaurierung befindlichen Gebetshalle der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo – Blick nach Westen (2018) | Nabil Kasbo (CC-BY-NC-ND)
Das Minarett der Großen Umayyaden-Moschee im Wiederaufbau, als Baumaterial werden Trümmersteine eingesetzt
Abb. 14: Die Nord- und Westfassade des im Wiederaufbau befindlichen Minaretts der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)

Das 45 m hohe, quadratische Minarett der Großen Moschee stürzte 2013 ein (Abb. 2, 14). Es war der älteste und größte erhaltene Gebäudeteil und stammte aus den 480er Jahren AH / 1090er Jahren n. Chr., aus seldschukischer Zeit. Dieses Minarett wurde durch den einflussreichen Richter von Aleppo, den Qadi Ibn al-Khashshab, bei dem örtlichen Architekten as-Sarmani in Auftrag gegeben. Der charakteristische mehrzonige Dekor entstand unter Rückgriff auf die bogenförmig umlaufenden Profilbänder der nordsyrischen spätantik-frühbyzantinischen Bautradition im Zusammenspiel mit islamischen Fassadenelementen wie Inschriftenbändern. Er war stilbildend für weitere Minarette.

Dieses Meisterwerk der Minarettarchitektur, das über 900 Jahre lang die Moschee und den angrenzenden zentralen Marktbereich Suq al-Madina überragt hatte, wird der Stadt als ein berühmtes Wahrzeichen erhalten bleiben: ein umfassender Wiederaufbau der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo ist im Gange (Abb. 13).


Beitragsbild: Blick über das Dach der südwestlich gelegenen Madrasat Ismaʿil Basha al-ʿAzm auf die Großen Umayyaden-Moschee von Damaskus mit dem hohen Querhaus der Gebetshalle mit zentraler Kuppel und den drei Minaretten (1985) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)


Autorenschaft von Eva Nmeir: Kunsthistorikerin mit besonderem Bezug zu Syrien. Sie bearbeitete für das Syrian Heritage Archive Project und seine Co-Projekte unter anderem die Weltkulturerbestätten „Altstadt von Aleppo“ und „Antike Dörfer in Nordsyrien“.

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr

von Rolf Brockschmidt

Elegant war sie, die historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr, die den Euphrat im Osten Syriens überspannte, unweit der Stelle, wo der Khabur in den riesigen Strom mündet. Sie brachte etwas Weltläufigkeit in diese Provinzhauptstadt. Bei unserer zweiten archäologischen Geländebegehung für den Tübinger Atlas des Vorderen Orients schlugen wir 1977 unser Quartier auch in Dayr az-Zawr auf, um von dort aus flussaufwärts am Khabur antike Siedlungshügel (Tall) zu untersuchen.

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Die aus militärischen Gründen erbaute Brücke diente seit Erbauung einer neuen Autobrücke nur noch als Fußgängerbrücke | Postkarte, 1960, Sammlung Michel Wagner
The suspension bridge over the Euphrates in Dayr az-Zawr
Die Uferzone war und ist – trotz der mittlerweile zerstörten Brücke – bis heute ein beliebtes Ausflugsziel | Foto Rami Alafandi, 2010

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Plan der Schrägseilbrücke nach dem System Gisclard, die ab 1925-27 von Gaston Leinekugel Le Cocq erbaut wurde | Zeichnung: M. Marlat, | Sammlung Didier Leinekugel Le Cocq

Mich als Studenten interessierte auch das alltägliche Leben der Menschen in der Stadt, doch architektonisch hatte diese Provinzhauptstadt damals auf den ersten Blick nicht viel zu bieten. Die wenigen Minarette der Moscheen wirkten etwas fremdartig, sie waren dicker, gedrungener und an der Spitze runder als ihre vergleichbaren Brüder im Westen des Landes. Mag sein, dass die Architektur des Irak schon hier ihren Einfluss zeigte.

Die einzige Sehenswürdigkeit und damit Wahrzeichen dieser weit abgelegenen Stadt war eben diese Hängebrücke. 1927 wurde sie während der französischen Mandatszeit (1920-1946) erbaut. Lange war sie die einzige Brücke der Stadt über den Euphrat. Allerdings war die Brücke schon damals in den 70er Jahren nur noch Fußgängern vorbehalten, eine weitere moderne Autobrücke wurde flussabwärts von der syrischen Verwaltung errichtet. Über sie fuhren wir in Richtung Khabur, jenen Seitenfluss reich an Altertümern, der schon durch Max von Oppenheim bekannt geworden war. So ließ sich die Hängebrücke beim Verlassen der Stadt in Richtung Jazira linkerhand bewundern, wie sie sich unverwechselbar über den Euphrat spannte, eingerahmt von Bäumen, das letzte Grün vor der Steppe. Diese Hängebrücke mit ihren vier Pfeilern war eigentlich eine Schrägseilbrücke – die von den Pylonen herab gespannten Seile kreuzten sich jeweils in der Mitte und bildeten einen Knoten, der für diesen Brückentyp charakteristisch ist. Albert Gisclard (1844-1909) hatte dieses System erfunden und sich patentieren lassen; die Schrägseilbrücken wurden vom Lizenznehmer F. Arnodin und seinem Partner G. Leinekugel Le Cocq gebaut. Die Brücke von Dayr az-Zawr war die vorletzte ihrer Art überhaupt. 460 Meter ist sie lang, beziehungsweise war sie lang, denn – wie die Agenturen meldeten – wurde sie am 17.August 2013 während der Kämpfe um die Stadt gesprengt.

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Man tieft die ersten Spundwände ein, wobei Lastkähne zum Transport der Materialien dienen| Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Installation eines Krans zur Montage eines Brückenpfeilers | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Dank der abdichtenden Spundwände können die Fundamente der Brückenpfeiler aufgemauert werden | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Der fast fertige Ankerpylon, an dem später die Seile befestigt werden | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Vier Arbeiter drehen eine Spindel, vermutlich um einen Metallpfeiler abzuteufen | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Lager der Metallelemente, die per Bahn und Floss nach Dayr az-Zawr gelangt waren – die Arbeiter im Hintergrund bereiten vielleicht die Verankerungspunkte für die Kabel vor | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Ein Arbeiter posiert in den Aufhängungen, die später die Fahrbahn der Brücke tragen werden | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Die Brücke nach der Zerstörung im 2013| Lens young Dayri

Zwei der Pylone stehen auf kleinen Inseln im träge dahinfließenden Euphrat, zwei weitere stehen in Ufernähe. Ohne die elegante Seilkonstruktion wirken sie wie verloren. Die jeweils drei durchbrochenen Bögen der einzelnen Pylone sind zum Teil zerstört. Fast sehen sie aus wie altertümliche Strommasten ohne Leitung, die jetzt – je nach Blickwinkel – aus dem Schilf herausragen. Ob sie jemals wieder aufgebaut wird – wer weiß.Wenn wir nach der Geländeerkundung abends aus der Jazira wieder zurückkamen und über die moderne Brücke fuhren, signalisierte uns rechter Hand die Hängebrücke: Ihr habt es bald geschafft und seid zu Hause. Es ist nur eine Brücke, mag man einwenden, aber sie war auch ein Kulturdenkmal des frühen 20. Jahrhunderts und ein Beispiel französischer Ingenieurskunst.

Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Die Baubeteiligten präsentieren sich stolz auf der Arbeitsplattform, die an Seilen aufgehängt ist  | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Einweihung oder Tragfähigkeitstest der Brückenfahrbahn | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive
Historische Hängebrücke von Dayr az-Zawr
Die Brücke über den Euphrat verband die Menschen in Dayr az-Zawr enger mit denen der Jazira | Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive

Featured image: Historische Schrägseilbrücke von Dayr az-Zawr, gesehen von der modernen Autobrücke aus | Jaber Al-Azmeh, 2007


Herzlicher Dank an 

Michel Wagner/F, http://www.timbresponts.fr/articles_et_publications/les_ponts_gisclard2.htm,  Brigitte Leinekugel le Cocq/F (Sammlung Didier Leinekugel Le Cocq), Fonds Arnodin Leinekugel Le Cocq, 46 S, Archives de Brive/F


Autorenschaft von Rolf Brockschmidt: Rolf Brockschmidt hat Germanistik, Niederlandistik und Geschichte in Berlin und Utrecht studiert und arbeitet seit 1982 als Redakteur und seit 2018 als Autor für den Tagesspiegel. Als Zeichner hat er 1974 an der Grabung in Kamid el Loz, Libanon, und 1977 an dem Survey des Tübinger Atlas des Vorderen Orients am Khabur, Syrien, teilgenommen.

60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: Die 2000er

  1. 60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: Die 2000er
  2. 60 Years of Rock and Heavy Metal in Syria: The 2000s
  3. 60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er – 90er
  4. 60 عامًا على موسيقى الروك والهيفي ميتال في سوريا: الألفية الثانية
  5. 60 Years of Rock and Heavy Metal in Syria: The 60s – 90s
  6. الموسيقى الكلاسيكية المعاصرة في سوريا
  7. Contemporary Classical Music in Syria
  8. Intro- Voices of Syrian Music
  9. The Diversity of Music in Syria
  10. Music & Religion
  11. Music & Community in Syria
  12. Folk Music
  13. Jazz Lives in Syria
  14. The Sound of Dayr az-Zawr
  15. Muwashahat: A Memory from Damascus

von Hannibal Saad

Ab den 2000ern begann die Rockmusikszene in Syrien regelrecht zu explodieren. Heute kann ich über 50 Rockbands aufzählen, die seither gegründet wurden, von denen einige sich am Leben halten konnten, während andere leider keine Chance bekamen, je gesehen zu werden.

The Gene Band

Eine der Rockbands, die in der syrischen Rockszene große Spuren hinterlassen hat, ist die Gene Band, eine Band aus sechs aktiven Musikern. Mit ihren speziellen Arrangements, traditionelle arabische Lieder in einem neuen progressiven Rockkontext zu spielen, gelang es der Band, Kunst zu schaffen und Aufmerksamkeit und Interesse zu wecken. Das Erbe der Gene Band sollte später in neuen Formationen wie Anas and Friends und den Ascendants weiterleben.

Die moderne Version des Liedes „Ya Waladi“ greift das gleichnamige Lied von Sheikh Imam und moderne Poesie von Adam Fathi auf.

In den 2000er Jahren tauchten viele Musiker aus dem Nichts auf und konnten ein großes Publikum um sich scharen, wie z. B. Yasser Alkhadra oder die Heavy-Metal-Band Amer Touma mit dem Sänger Jean Samara, der an mehreren Bandprojekten beteiligt war, bis er während des Krieges nach Berlin emigrierte. Viele dieser Bands spielten Heavy und Trash Metal, aber es wurden auch einige Doom-Metal-Bands gegründet. Auch Punk-Bands wie das Mazhott-Trio mit Frontmann Rashwan traten auf.

Generell wurde die Rockszene stabiler und organisierter, da Rockcafés und Musikproduktionsfirmen entstanden. Gitarrist Rawad Abdul Massih, Gründer mehrerer Bands wie Hourglass und Rasas, gründeten in Damaskus ein Studio für Musikproduktion, das bis heute in Betrieb ist. Mouhannad Alsamman, Gitarrist der ehemaligen Marmar-Band (siehe 90er Jahre), eröffnete in Damaskus ein Rock-Café namens „Mon Café“ – ein Ort, an dem sich junge und alte Musiker*innen treffen.

Yasser Al-Khadra – An Epic Tale
Die Amer Touma Band
Mouhannad Alsammans Band Mood Music spielt wöchentlich in Damaskus mit der Sängerin Leen Al Batal
The Hourglass – Holy Rage ’10
Die Band Rasas mit Gitarrist Rawad Abdul Massih
Mazhott trio with frontman Rashwan

Um 2006 wurde Qussai Aldakr, Gitarrist, Keyboarder und Mitglied der Band Tuner, Leiter der technischen Abteilung des Higher Institute of Music, wo er 40 Musiker*innen in Aufnahme und Musikproduktion ausbildete. Seine Arbeit trug dazu bei, eine Marktlücke für kostengünstige Aufnahmen zu schließen. Dies öffnete die Tür für ein internationales Online-Publikum. Da es an öffentlicher Unterstützung und Kulturpolitik mangelte, war diese Generation die erste, die von den Vorteilen der sozialen Medien profitierte.

| Frauen & Rockmusik in Syrien

Die Rockszene hat eine Reihe von sehr starken Sängerinnen hervorgebracht, die erwähnenswert sind. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Rockmusikszene in Syrien so vielfältig ist. Eine von ihnen ist Rasha Rizk, die in mehreren Bands spielte, darunter Ittar Shameh. Rasha Rizk gelang es, ihre Arabischkenntnisse, Operntechnik und ihre lebendige Stimme erfolgreich einzusetzen, um so ihren eigenen einzigartigen Stil zu etablieren. Rizk wurde auch durch die Produktion von Liedern für TV-Kinderserien bekannt und lebt heute in Frankreich.

Weitere weibliche Frontsängerinnen traten in einer Reihe von Bands auf. Zu den sehr bekannten Sängerinnen gehören Areej Zayat, Souzana Joumaa, Nermeen Shawki und Carmen Toukmaji, um nur einige zu nennen. Entdecken Sie einige Lieder dieser Frauen:

Die Band Ivy besteht ausschließlich aus weiblichen Musikerinnen mit Lilith Jannet als Frontsängerin, Nour Abulfadel an der Gitarre, Bassistin Rachelle Ghanem und Natally Hallaq am Schlagzeug.
Rasha Rizk – Sakru Shababîk
Carmen Toukmaji
Nour Arksousi mit der Syrian Big Band im Pergamonmuseum Berlin in 2010 (Nights of Ramadan). Nour wurde durch einen Auftritt bei The Voice berühmt und singt auch andere Genre.

| Rock und Heavy Metall seit 2011

Der Krieg hat tiefe Spuren in der Rockmusikszene hinterlassen, nicht nur durch die zahlreichen Musiker*innen, die das Land verlassen haben und deshalb global verteilt sind. Trotzdem haben sich viele neue Bands in Syrien formiert, die in ihrer Musik die Erfahrungen des Krieges verarbeiten.

Monzer Darwish, Heavy-Metal-Musiker aus der Stadt Homs, erzählte dem Magazin The Atlantic im Jahr 2014, wie er und seine Freunde während des anhaltenden furchtbaren Krieges Zuflucht in ihrer eigenen Musik suchten. Er berichtet außerdem, wie die Heavy-Metal-Szene mit der von ihr geschaffenen Musik aktiv „einen brutal ehrlichen Dialog darüber geführt, wie man den Krieg überleben und Gesellschaft reformieren kann.“

„Heavy Metal here is at war with the war itself“

Monzer Darwish (@The Atlantic)

Monzer Darwishs Dokumentation „Syrian Metal is War“

Die Erfahrung des Krieges wurde zu einem vorherrschenden Thema in der Rock- und Heavy-Metal-Szene. Bands wie Maysaloun, DUST etablierten sich ab 2011, mussten aber mit den gegenwärtigen Unruhen in ihrem Land stets fertig werden.

Die Band Maysaloon mit ihrem Lied Warsphere
Die Band D.U.S.T mit ihrem Lied Dust

| Von Syrien in die Welt

Gleichzeitig haben viele Musiker außerhalb Syriens eine neue Heimat gefunden und in der Diaspora neue Formationen mit einer starken Fangemeinde hervorgebracht, wie Tanjaret Daght und Khebez Dawleh.

“The Syrian trio Tanjaret Daghet look increasingly like becoming one of the few bands to nail the tricky business of making Arabic language rock appeal to people who don’t really listen to anything except Western music.
The Rolling Stones Magazine
Tanjaret Daghet behandelt in ihrem Song Ta7t El Daghet den Druck des Krieges und den Verlust ihrer Identität

Tanjaret Daghet

Die 2008 gegründete Band Tanjaret Daghet entstand durch den kreativen Kopf des Leadsängers und Bassisten Khaled Omran. Eine Metamorphose nach der anderen, besteht die Band heute aus drei Musikern: Tarek Khoulouki, Gitarrist und Background-Sänger, Dany Shukri, Schlagzeuger, und natürlich Khaled Omran. In Beirut (Libanon) ansässig zieht die Band ein großes Publikum in der arabischen Welt an und hat für solche Aufmerksamkeit gesorgt, dass das berühmte Rolling Stones Magazin einen Artikel über sie als aufsteigende arabische Rockstars veröffentlich hat.

Khebez Dawle

Khebez Dawle ist eine vierköpfige syrisch-libanesische Indie-Rock-Band. Gegründet in Damaskus Ende 2012 als Ein-Mann-Projekt, konsolidierte sich die Band in Beirut (Libanon) Anfang 2013 mit Muhammad Bazz, Bashar Darwish, Hekmat Qassar und Anas Maghrebi. Ihr erstes Konzeptalbum „Khebez Dawle“ wurde im August 2015 veröffentlicht und präsentiert sehr energetische und kraftvolle Musik. Die Bandmitglieder leben mittlerweile in Berlin.

In 2020 veröffentlichten Khebez Dawle ihre neue Single Ara.

Obwohl viele der jungen aufstrebenden Musiker die Geschichte der Rockmusik in Syrien nicht kennen, hat es die Szene geschafft, zu überleben und das Wasser so sehr am Laufen zu halten, dass bis heute Wellen zu erkennen sind. Es gibt heute viele sehr begabte Rockmusiker in ihren frühen Zwanzigern, die auf eine bessere Zukunft warten und hoffen. Unter ihnen sind Talente wie Ammar Ghazi, Omar Hawasli, Mohammad Stash und viele andere. Ich hoffe von ganzem Herzen, sie in einer friedlichen Zukunft auf großen Bühnen sehen zu können.

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Titelbild: Das Bild zeigt mehrere syrische Rockbands und Musiker*innen bei einem Auftritt der Syrian Big Band im Jahr 2011 (© Hannibal Saad). Für weitere Informationen über Rockmusik in Syrien besuchen Sie die Facebook-Gruppe Rock Lives in Syria von Hannibal Saad.

60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er – 90er

  1. 60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: Die 2000er
  2. 60 Years of Rock and Heavy Metal in Syria: The 2000s
  3. 60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er – 90er
  4. 60 عامًا على موسيقى الروك والهيفي ميتال في سوريا: الألفية الثانية
  5. 60 Years of Rock and Heavy Metal in Syria: The 60s – 90s
  6. الموسيقى الكلاسيكية المعاصرة في سوريا
  7. Contemporary Classical Music in Syria
  8. Intro- Voices of Syrian Music
  9. The Diversity of Music in Syria
  10. Music & Religion
  11. Music & Community in Syria
  12. Folk Music
  13. Jazz Lives in Syria
  14. The Sound of Dayr az-Zawr
  15. Muwashahat: A Memory from Damascus

von Hannibal Saad

Ich bin in den 80er Jahren aufgewachsen, in einer Zeit, in der Bands wie Pink Floyd, Scorpions und Deep Purple in Syrien aufblühten. Syrien hatte gerade eine kurze Periode ziviler Unruhen hinter sich, die das kulturelle Leben zwischen 1979 und 1986 fast vollständig zum Erliegen gebracht hatten. Ich stand kurz vor dem Schulabschluss, wollte bald mit dem Studium beginnen und verbrachte meine Tage in Läden wie Haro oder Dawn, kleinen Kassettenläden in Damaskus, die Rock- und Jazzkassetten verkauften. Ich wollte unbedingt Musik spielen und suchte nach anderen Musikern, denen ich mich anschließen konnte. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu diesem Zeitpunkt in Syrien bereits eine richtige Rockszene gegeben hatte. Ich kannte nur die beiden berühmten syrischen Rockbands Rockestra und Invaders, von denen ich dachte, dass sie die einzigen waren, die es vor uns gegeben hatte. Aber als ich in die Szene kam und anfing, mit meiner ersten Band Konzerte zu spielen, erzählten uns die Leute erstaunlichen Geschichten über Rockbands in Syrien, die schon in den 60er Jahren entstanden waren.

Ich fragte mich, warum ich noch nie von diesen Bands gehört hatte, und begann, die Geschichte der Rockmusik in Syrien zu erforschen – ein Thema, das bis heute nicht sehr gut erforscht ist. Meine Nachforschungen konzentrierten sich hauptsächlich auf Damaskus, obwohl auch andere Städte eine lebendige Szene hatten, die es noch aufzudecken gilt. Auf meiner Reise wurde ich von Menschen wie Hani al-Dajani inspiriert, einem Übersetzer, der in seinen Notizbüchern leidenschaftlich Texte von alten Musikkassetten dokumentiert hatte. Manchmal denke ich, dass wir diese besondere Hingabe und diese unmittelbare Erfahrung durch die Cyberwelt, in der wir leben, verloren haben. Diese unbekannten Teil unserer Geschichte und die damit verwobenen Erzählungen faszinieren mich bis heute.

Die 60er und 70er: Ein großartiger Anfang

Die Rockmusikszene in Syrien geht mindestens bis 1961 zurück und kann nur als eine sehr lebendige, dichte und energiebeladene Szene beschrieben werden. Wie bei vielen anderen Musikgenres, die in Syrien Einzug hielten, spielten Musikläden eine wichtige Rolle bei den Anfängen. Bereits in den 60ern gab es zwei Plattenläden namens Sardarian und Shaheen in Damaskus. Die Kassettenläden Haro (1972) und Dawn (1974) eröffneten später, gefolgt von Eido, Leido und Hawasly, und in Aleppo boomte der Laden Shadows mit seinen Verkäufen. Den Kassettenladen Dawn von Mazen Laham gibt es noch immer und er verkauft bis heute Kassetten. Ein Besuch in seinem Laden wird Sie Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzen.

In gewisser Weise begann alles mit dem Verkauf von Rockmusikkassetten, die seit den frühen 60ern aufgezeichnet wurden, und dann bildeten sich Musikgruppen, die diese Musik spielten. Einige dieser frühen Bands waren The Cats und die Tigers unter der Leitung des Schlagzeugers Johnny Komovich und dem Keyboardspieler Vahe Demirjian. Mir sind etwa zehn Rockbands bekannt, die von 1970 bis 1980 – als die Unruhen in Syrien begannen – in Damaskus ununterbrochen Musik machten. Die meisten von ihnen waren Coverbands wie die Band The Underground, die Lieder von Uriah Heep, Deep Purple, Beatles, Pink Floyd oder King Crimson usw. spielten. Ähnlich war es in Aleppo und anderswo im Lande.

60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er - 90er
Die Band The Fireball © Fahid Lababidi
60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er - 90er
Die Band The Underground © Ghassan Al-Yamani

60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er - 90er
Vahan Shakarian in 1965 © Ara Souvalian
60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er - 90er
Aziz Alkhani, Riad und Abboud Flaifel, Faisal al-Nahas © Ara Souvalian

Die Art der Musik, die von diesen Bands gespielt wurde, hing in der Regel von dem Publikum ab, das sie sich ausgesucht hatten. Rockbands, die in öffentlichen Räumen wie Restaurants und Nachtclubs des Meridian- oder Sheraton-Hotels, des El Sham Hotels, sowie den Clubs Orient, Vandom oder Casa, änderten ihre Musik in der Regel in sanftere Klänge, die dem Ambiente des Ortes entsprachen. Einige dieser Bands waren die Tigers, die Spiders, Magic Fingers sowie The Fireball, die nach einem Deep Purple-Album benannt war. Aber natürlich gab es noch viel mehr aktive Bands. In dieser Zeit war es sehr üblich, dass Rockbands Uniformen trugen.

Und doch waren die Zeiten für Rockmusiker in den 70er Jahren schwierig, vor allem als das Land Ende der 70er Jahre erneut politische Spannungen erlebte. Die anhaltenden Unruhen hatten enorme Auswirkungen auf das tägliche Leben. Von 1979 bis 1986 kam das kulturelle Leben fast völlig zum Erliegen. Clubs, Restaurants und Hotels, in denen früher westliche Musik vor den Augen von ganzen Familien gespielt wurde, wurden ab 1979 immer weniger und verloren aufgrund der mangelnden Sicherheit ihr Publikum. Ehemals wohlhabende Bands hatten plötzlich weniger Arbeit. Viele Bands wurden für ein einziges Konzert gegründet, um sich kurz darauf wieder aufzulösen. Als sich dann die Situation in Syrien endlich zu normalisieren begannen, hatte sich die gesamte weltweite und lokale Musikszene drastisch verändert. Selbst die Rockmusik hatte sich verändert, und nur wenige Bands wie die Tigers überlebten.

| Die glorreichen 80er

Im Jahre 1984 begann dann eine Band am Lycée-Gymnasium vor einem begeisterten Publikum bekannte Rocksongs zu spielen: Rockestra war geboren und wurde von Gitarrist Bassel, Zreik, Sänger Talal Karkutli und Freunden geleitet. Die Band konnte sich nicht nur eine sehr aktive Fangemeinde aufbauen, sondern schaffte es auch, mehrmals im nationalen Fernsehen aufzutreten. (-> Sehen Sie altes Filmmaterial der Band Rockestra auf Youtube hier)

Es folgte eine weitere Band wie die Invaders, die von Sänger Bassel Haj Youssef, Gitarrist Mazen Arafat, Schlagzeuger Rafi Markarian und anderen gegründet wurde und vor allem in Damaskus bekannt war, wo sie mehrere Konzerte gab.

60 Jahre Rock und Heavy Metal in Syrien: 60er - 90er
The Syrian Rock band "The Invaders" in 1987

Bild links: The Invaders in 1986 © Bassel Youssef / Bild rechts: The Invaders in 1987 © Mazen Arafat

Viele andere Bands, die in dieser Zeit gegründet wurden, lösten sich kurz nach ihren ersten Konzerten auf, wie z.B. White Lead und Prism. Zur gleichen Zeit entwickelten sich mehrere öffentliche Räume, die zu wichtigen Bühnen für Rockmusiker wurden, wie das Russische und das Französische Kulturzentrum, das Goethe-Institut sowie die Theater Zahra und Hamra.

The Journey

1987 traten der Sänger Bassel Haj Youssef, Gitarrist Monzer Kebbeh, Keyboarder Ammar Alani, Schlagzeuger Kinan Berouti, und der Bassist Bassel Khalil in meine Band The Journey ein, die ich 1986 gegründet hatteein Jahr zuvor gegründet hatte und der sich später weitere Mitglieder anschlossen. In den ersten sechs Jahren gaben wir mehr als 35 Konzerte und traten auch in mehreren Fernsehsendungen auf. Es war eine Zeit, in der sich die allgemeine Stimmung gegenüber Rockmusik veränderte und mehr Bands öffentlich auftraten. Als ich 1993 in die USA auswanderte, gründete sich Journey als Marmar Band neu. Marmar war vor besonders dafür bekannt, dass sie in Damaskus in einer sehr angesagten Kneipe spielten, deren Name in den 80er Jahren zum angesagten Treffpunkt für Rockmusiker wurde.

| Die 90er Jahre und die Geburt des Heavy Metals in Syrien

Anfang der neunziger Jahre gab es in Aleppo und Damaskus mindestens 15 Rockbands mit einem festen Publikum, die eher progressiven Rock spielten. Vor allem aber hielt der Heavy Metal Einzug in die Szene. Bands wie Bloody Heaven starteten Ende 1980, gefolgt von Krokers, Sudden Death und der Band Urgent. Außerdem wurde eine wunderbare Band namens Nameless von dem talentierten Gitarristen Akram Maksoud, Ibrahim Soulaymani und ihren Freunden gegründet.

Kulna Sawa – Nezlen Ala El Boustan

Kulna Sawa

1995 tauchte eine Band namens Kulna Sawa auf, die zu einer der erfolgreichsten arabischsprachigen syrischen Rockbands in der arabischen Welt werden sollte. Die Band (deren Name „wir alle zusammen“ bedeutet) begann mit der Neuarrangierung verschiedener traditioneller Lieder, komponierte aber später auch eigene Songs. Ihre Hingabe zur arabischen Sprache war der Schlüssel zu ihrem Erfolg und geht auf den großen Einsatz von Frontmann Iyad Rimawi zurück, der die Band davon überzeugte, bei ihrer Muttersprache zu bleiben. Rimawi wurde in Damaskus ein erfolgreicher Songwriter für Fernsehserien und Filme. Seine Lieder sind in der arabischen Welt sehr bekannt.

Ab Mitte der neunziger Jahre traten immer mehr Heavy-Metal-Bands auf, inspiriert von Bands wie Metallica aus Deutschland und Iron Maiden aus dem Vereinigten Königreich. Das Publikum dieser Bands gehörte zumeist der Mittelschicht an. Sie hatten in Syrien wenig Hoffnung und fanden in der Musik eine m Flucht zu dem, was für sie „Weltkultur“ war. Viele von ihnen hofften, eines Tages in den Westen fliehen zu können.

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Feature Image: © Ghassan Al-Yamani

* Die Rock- und Heavy-Metal-Landschaft in Syrien ist enorm groß geworden. Viele Musiker arbeiteten in verschiedenen Bands, die es verdienen, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden: Nouri Haydar, Kinaz Nahhas, der jordanische Musiker Hassan Fanni, Bassam Hamwi, Talal Abou Radwan, Haitham Hamwi, Ghassan Al Yamani, Bassam Arab Oughly, Maha Al Jabiri, Bashar Bitar, Ara Souvalian, Youssef Hammal, Ayman Fahham, Riad Ateeq, Munir Lababidi, Ziad Khluki, Faysal Al Nahas, Raeef Shukri und viele andere. Auch internationale Musiker wie der Italiener Enrico Roma und der Grieche Dimitri Khristo waren Teil der Szene.

Weitere Informationen über Rock in Syrien ab den 60er Jahren finden Sie in der Facebook-Gruppe الغربية في سوريا und im Facebook-Blog von Ara Sovalian, die beide gegründet wurden, um den vielen Musikern, die hier nicht erwähnt werden konnten, die verdiente Anerkennung und Respekt zu geben.


 

Stimmen der syrischen Musik

  1. Stimmen der syrischen Musik
  2. Zeitgenössische klassische Musik in Syrien
  3. Musikalische Diversität in Syrien
  4. Musik & Community in Syria
  5. Volksmusik
  6. Musik & Religion
  7. Jazz Lives in Syria
  8. Der Klang von Dayr az-Zawr
  9. Muwashahat: Eine Erinnerung aus Damaskus

Syrien ist eine außergewöhnliche Kulturlandschaft mit vielfältigen musikalischen Traditionen. Geprägt von einer Jahrtausende alten Geschichte wurde sie von vielfältigen Kulturen beeinflusst, die durch die Region zogen oder das Land ihre Heimat nannten.

Um die Musik in Syrien zu verstehen, ist es hilfreich, die Landschaft durch die Linse der Menschen zu erkunden, die ihr Leben der Musik oder der Erforschung des einzigartigen musikalischen Erbes Syriens gewidmet haben. Für diese thematische Reise haben wir mit Forschern und syrischen Musikern zusammengearbeitet, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit der weiten Landschaft der musikalischen Traditionen in Syrien mit uns geteilt haben. Die eingehende Recherche beleuchtet die Geschichte der Musik in Syrien und ihre verschiedenen Formen.

Obwohl die einzelnen Beiträge auf dieser Webseite durch eine Einteilung von Musik in verschiedene Gruppierungen oder Regionen einteilen, sind die Artikel dieser Kampagne ebenso wie die verschiedenen musikalischen Genres nicht als separate Einheiten zu sehen. Sie versuchen vielmehr, verschiedene Einstiegspunkte und Perspektiven zu bieten, von denen aus die Vielfalt und Komplexität der syrischen Musik erkundet bzw. verstanden werden kann. Aspekte des musikalischen Erbes sind nicht auf eine einzige Erscheinungsform beschränkt und können Elemente aus verschiedenen Quellen enthalten, die über nationale oder kulturelle Grenzen hinausgehen. So wie jeder Mensch Musik anders erlebt, sind Musikschöpfungen nie in der Zeit eingefroren, sondern interagieren und entwickeln sich mit ihren Schöpfern. Daher treffen sich musikalische Formen in Syrien an verschiedenen Knotenpunkten und sind tief miteinander und mit der ganzen Region verwoben.

Traditionelle Musik

Stimmen der syrischen Musik
Abbas´ Publikationscover „Traditionelle Musik in Syrien“ (© UNESCO)

Prof. Hassan Abbas

Die Artikelserie von Prof. Hassan Abbas stellt eine Einführung in die traditionelle Musik in Syrien dar, indem sie verschiedene kulturelle Gruppen als Einstiegspunkte für die Erkundung der Musik in Syrien nutzt. Abbas war ein führender Wissenschaftler und Experte für die syrische Kultur und insbesondere für traditionelle syrische Musik. In seiner Artikelserie erklärt Prof. Abbas, wie Musik in Syrien von verschiedenen Gruppen, ihren Sprachen und religiösen Überzeugungen geprägt wurde.

-> Zu seinen Artikeln


Regionale Musik

Obeid Alyousef

Obeid Alyousef ist Musiker und ehemaliger Dozent der Universität von Homs. In seinem Interview „Der Klang von Dayr az-Zawr“ erzählt Alyousef seine persönliche Geschichte, wie er Musiker wurde und warum er das einzigartige musikalische Erbe seiner Heimatstadt Dayr az-Zawr dokumentiert. Der Text gibt Einblicke in die geografischen Unterschiede syrischer Musik und wie benachbarte Länder Einfluss auf diese genommen haben. Bleiben Sie dran für weitere Interviews mit ihm.

-> Zu seinem Interview

Stimmen der syrischen Musik
Musiker Obeid Alyousef

Zeitgenössische Musik

Syrien war schon immer ein Knotenpunkt, an dem sich Kulturen treffen. Es ist daher kein Wunder, dass das Land auch eine sehr lebendige zeitgenössische Musikszene hat, die eine Vielzahl von Musikformen sowohl vorangetrieben als auch übernommen und mit eigenen Arrangements vermischt hat.

Stimmen der syrischen Musik
Dirigent und Komponist Solhi al-Wadi (© Hamsa al-Wadi Juris)

Hannibal Saad

Hannibal Saad ist Musiker und Gründer mehrerer Musikinitiativen wie dem Jazz Lives in Syria Festival und der Global Week for Syria. In seiner Artikelserie gibt er wertvolle und einzigartige Einblicke in zeitgenössische Musik in Syrien. Saad nimmt uns mit auf eine Reise durch verschiedene Musikformen wie Jazz und Rockmusik. Dabei enthüllt er die Geschichte eher unbeachteter Musikstränge in Syrien und erklärt am Beispiel des syrischen Jazz, wie sich eine moderne Musikindustrie mit starken Verbindungen zum internationalen Publikum entwickelt hat.

-> Zu seinen Artikeln

Titelbild: © Hannibal Saad

Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie

  1. Seidenstoff und soziale Bindung in Syrien
  2. Silk Fabric and Social Ties in Syria
  3. Syrien, eine historische Textilgeschichte
  4. الأقمشة الحريرية والروابط الاجتماعية في سوريا
  5. تاريخ النسيج في سوريا
  6. Syria, a Textile History
  7. Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie
  8. صناعة الحرير بأيد عائلة دمشقية
  9. A Family of Damascene Silk Manufacturer
  10. The Art of Syrian Textile Production
  11. A Felt Carpet from al-Bab
  12. The Threads of Life: Syrian Textile Ornamentation
  13. Hidden Figures: The Women behind the Beautiful Craft of Aghabani
  14. The Ink That Lasts Forever: Textile Printing in Syria
  15. From Animals and Plants: Textile Raw Materials
  16. A Peek into Syria’s Sericulture World
  17. Insights into Syria’s Centuries-Old Silk Craft
  18. What Remains of the Silk Road?
  19. People of the Desert: Bedouin Clothing
  20. Carpets from Raqqa: A Memory
  21. Traditional Textiles: An Endangered Tradition
  22. Unforgotten: The Fragrance of Memories

von Florence Ollivry

Entrance door of the textile factory of the Mezannar family
Eingangstür der Textilfabrik der Mezannar family –
| Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Auf dem Giebel eines riesigen Gebäudes neben dem Osttor (Bab Sharqi) konnte man lesen: „Antoun Elias Mezannar Textilfabrik, gegründet im Jahr 1890“ (Mʿamal nasij, Antoun Elias Mezannar, taʿssasa sanat 1890). An diesem Ort verdichtet sich ein Jahrhundert der Geschichte der Seidenweberei von Damaskus.

Antouns Vater war Weber von Badetüchern (manshafa) aus Seide und Baumwolle, die er auf handbetriebenen Webstühlen herstellte. 1870 webten in Syrien 20.000 Handwerker Seide auf nicht-mechanischen, hölzernen Webstühlen. Doch schon einige Zeit später wurde Antoun Mezannar zu einer führenden Figur bei der Modernisierung der Webtechnik in Syrien und innerhalb von 20 Jahren machte er seine Werkstatt zur größten Seidenfabrik des Landes.

Von 1840 bis 1860 wurden die osmanischen Provinzen der Levante von sozialen Unruhen erschüttert die auf Damaskus übergriffen, wo im Juli 1860 das christliche Viertel geplündert, niedergebrannt und viele Webstühle zerstört wurden. Diese Unruhen dienten als Vorwand für eine französische Militärintervention. Die zunehmende Intensität des Handels zwischen Seidenhändlern im französischen Lyon und der Levante sowie das strategische Interesse ihrer Kontrolle über die syrische Seidenindustrie motivierten sie ab 1860, Druck auf die französische Regierung auszuüben, um die beiden Mandate Frankreichs in der Levante zu erhalten. Die Kontrolle der Lyonnaiser über die levantinische Seidenkultur war so groß, dass 90 Prozent der in Syrien und im Libanon produzierten Seiden zu diesem Zeitpunkt nach Frankreich gingen. Um diesen Handel zu erleichtern, bauten französische Unternehmen eine Straße und eine Eisenbahnlinie zwischen Beirut und Damaskus.

Lyon war damals die französische Seidenhauptstadt. Dort hatte auch Joseph-Marie Jacquard (gestorben 1834) seinen berühmten programmierbaren mechanischen Webstuhl erfunden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte Antoun Mezannar mechanische Webstühle mit Elektromotoren von Lyon nach Damaskus und wurde einer der ersten Stromverbraucher in Damaskus.

Hubert Mouzannar, son of Antoine Elias Mezannar. In the background is the certificate of a gold medal, the family won in 1936 on Damascus International Fair
Hubert Mezannar, Sohn von Antoun Elias Mezannar. Im Hintergrund ist an der Wand die Goldmedaille zu sehen, die seine Familie 1936 auf der internationalen Messe in Damaskus gewann – | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

| Hubert Mezannar

Sein jüngster Sohn, Hubert, studierte vier Jahre lang an der École Supérieure des Industries Textiles in Lyon. Er kam mit einer soliden Ausbildung zurück. Zusammen mit seinem älteren Bruder Marcel bauten sie auf dem Erbe des Vaters auf und spezialisierten sich auf die Herstellung von Brokat. Bald entwickelte sich in Damaskus ein internationaler Wettbewerb. Die Familie Mezannar machte Geschäfte mit der Schweizer Firma Rüti, die sie mit Hochleistungswebmaschinen belieferte. Der Züricher Zeichner Kaiser fertigte Skizzen und Karten für sie an. 1936 erlebte die Familie Mezannar den Höhepunkt ihres Ruhms, als sie auf der Messe in Damaskus mit der Goldmedaille ausgezeichnet wurde. 

| Modernisierung der Textilindustrie in Damaskus

Die Modernisierung der Webstühle führte zur Entwicklung und zum Erwerb von neuem Know-how. In Damaskus waren die ersten Patronenzeichner zwei armenische Brüder: Dikran und Yervant Stepanian – letzterer lebt noch. Nachdem sie vor den Massakern in Diyarbakır in der Südtürkei geflohen waren und auf der Insel Zypern Zuflucht gesucht hatten, gingen sie nach Beirut, wo sie bei ihrem Onkel Hagob, der für die Lyonnaiser arbeitete, das Handwerk des Patronenzeichnens erlernten. Bei diesem werden gewünschte Muster milimetergenau in eine Zeichnung übertragen, um auf dieser Grundlage die Lochkarten für Jacquard-Webstühle herzustellen. Als die beiden Brüder 1937 in Damaskus ankamen, wurden sie von den Webern der Stadt freudig aufgenommen. Sie besaßen ein wertvolles Know-how. Die Fabrik Mezannar gehörte zu ihren ersten Kunden.


Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie
Brokattasche mit dem ursprünglichen „Elizabeth-Muster“ aus der heutigen Produktionsstätte von Tony Mezannar | © Tony Mezannar

1947 beauftragte Präsident Shukri al-Quwatli die Gebrüder Mezannar, einen originellen Entwurf für die Hochzeit der Prinzessin und damaligen Königin Elisabeth II. von England, mit Philip Mountbatten zu liefern. Yervant und sein Bruder entwarfen die „Untrennbare“ (ʿashiq wa maʿshuq) – 200 m weißer, golddurchwirkter Seidenbrokat wurden der Königin geschenkt. Die Geschichte dieses Geschenks ging durch die Stadt und bis heute trägt dieser Brokat, wenn er in den Suqs verkauft wird, den Namen „Elizabeth“. 

Eine Damaszener Seidenherstellerfamilie
Originalzeichnung von Yervant Stepanian des Elizabeth-Musters, um daraus die Lochkarten zu stanzen | Patronenzeichnung: © Yervant Stepanian
Ein Jacquard-Webstuhl in der Textilfabrik der Familie Mezannar in Damaskus
Ein Jacquard-Webstuhl in der Textilfabrik der Familie Mezannar in Damaskus | Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Mezannar-Webstühle mobilisiert, um Seidentuch für britische Fallschirme zu weben. 1942 war die Nachfrage nach Seidentuch so groß, dass 410 Tonnen zusätzliche Kokons importiert werden mussten, um in Syrien und Libanon gesponnen zu werden. 

Die Mezannar-Fabrik ist Teil der langen Geschichte der Seide in Syrien. Im zwanzigsten Jahrhundert durchlief sie viele Veränderungen im Zusammenhang mit Kolonisierung, Globalisierung, Mechanisierung, etc. Während die Seide und ihre Weber Syrer waren, hörten die Werkzeuge auf, dies zu sein. Den syrischen Handwerkern gelang es dennoch, den Stoffen die Spuren ihrer Kultur einzuprägen. 

Bis heute bewahrt die Familie Mezannar zwei Kataloge aus dem Victoria & Albert Museum in London auf: A Brief Guide to Persian Woven Fabrics (Kurzer Führer zu den persischen Geweben, 1922) und A Brief Guide to the Turkish Fabrics (Kurzer Führer zu den türkischen Geweben, 1923). Diese Dessins orientalischer Stoffe, die ursprünglich in Zentralasien, Persien, dem Osmanischen Reich und Andalusien gewebt wurden, in orientalischen Sammlungen oder in bestimmten Textilmuseen in Europa aufbewahrt und in Katalogen und Spezialwerken fotografiert wurden, erreichten Damaskus: Antoun Mezannar, ein syrischer Weber und internationaler Geschäftsmann, ließ sich von diesen Sammlungen orientalischer Seide inspirieren. Er wählte die Zeichnungen aus, die ihm am besten geeignet schienen, seine Kultur auszudrücken, und ließ sie von einer ganzen Kette von Handwerkern anfertigen. Diese Dessins spiegeln in gewisser Weise die lange Geschichte des globalisierten Austauschs, eine Wiederaneignung des Ostens durch den Osten.

| Galerie der Mezannar-Fabrik in Damaskus

In den 1960er Jahren verstaatlichte die arabische sozialistische Baʿath-Partei die Privatunternehmen. Die großen Familien, die mit dem Textilsektor verbunden sind, sahen sich im ganzen Land geschwächt. Anfang der 2000er Jahre wurde die Familie Mezannar darüber informiert, dass sie vom Staat enteignet werden sollte. Nach einem qualvollen Warten, das in taubem und bitterem Zorn verlief, musste die Familie Mezannar im Juli 2010 hilflos zusehen, wie große Teile der Fabrik zerstört wurden. Dennoch konnte ein Teil der Webstühle gerettet werden, so dass Tony Mezannar die Familientradition der Seidenbrokatweberei bis heute weiterführt.


Featured image: Vorbereitung der Spulen in der Textilfabrik der Familie Mezannar


Autorenschaft von Florence Ollivry: In Syrien hat sich Florence Ollivry mit der Geschichte der Esskultur und der Seidenraupenzucht befasst. Sie ist Doktorin der Religionswissenschaften (Universität von Montréal; EPHE-PSL) und forscht derzeit über die mystische Dimension des Islam.

Zeitgenössische klassische Musik in Syrien

  1. Stimmen der syrischen Musik
  2. Zeitgenössische klassische Musik in Syrien
  3. Musikalische Diversität in Syrien
  4. Musik & Community in Syria
  5. Volksmusik
  6. Musik & Religion
  7. Jazz Lives in Syria
  8. Der Klang von Dayr az-Zawr
  9. Muwashahat: Eine Erinnerung aus Damaskus

von Hannibal Saad

Zeitgenössische klassische Musik in Syrien würde in ihrer Vielfalt und Professionalität ohne ihre Gründerväter Solhi al-Wadi und Nouri Iskander nicht existieren. Solhis Ehrgeiz, eine professionelle klassische Musikszene in Syrien aufzubauen, war in der syrischen Geschichte außergewöhnlich und legte den Grundstein für die wichtigsten Musikinstitute Syriens. Nouri Iskanders tiefergehende Forschung der arabischen maqamāt (Plural von maqām), dahingegen, befähigte das Musiktalent, einzigartige Musikstücke durch die Verschmelzung alter Melodien mit zeitgenössischen Vertonungen hervorzubringen, die weltweit geschätzt werden.

Solhi al-Wadi

1934 in Bagdad (Irak) geboren, verbrachte Solhi al-Wadi seine Kindheit in Damaskus und verließ Syrien später, um an einer Musikhochschule in Alexandria (Ägypten) Violine und Komposition zu studieren. Es folgte ein höheres Musikstudium an der Royal Academy of Music in London. Nach seiner Rückkehr nach Damaskus in den 1960er Jahren war Solhi entschlossen, eine professionelle zeitgenössische klassische Musik- und Kunstszene in Syrien aufzubauen. Er begann mit der jüngeren Generation und widmete sich in den ersten Jahren der Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig knüpfte er wichtige Beziehungen ins Ausland, z. B. zur ehemaligen Sowjetunion, von wo er qualifizierte Musiker*innen holte, die am neu gegründeten Arab Institute of Music unterrichten sollten. Ab 1967 gelang es ihm, aus Studierenden und Lehrer*innen ein Kammerorchester aufzubauen. Mit ehrgeizigen, unermüdlichen Bemühungen gelang es ihm 1990 das High Institute of Music and Theatre zu eröffnen, wo er dann als Professor für Musikgeschichte und Musiktheorie tätig war. Für Solhi wurde das Institut zu seinem Zuhause. Sein Talent für Mikromanagement durchdrang die gesamte Atmosphäre des Ortes, einschließlich Auswahl der richtigen Bäume, die im gesamten Institut gepflanzt wurden, bis hin zu den vielen Katzen, die im Garten umherstreiften. Für Solhi waren sie integrale Bestandteile „seines“ Instituts, und er kümmerte sich rührend um die Fütterung jeder einzelnen Katze, während er gleichermaßen dafür sorgte, dass alle MusikerInnen und LehrerInnen pünktlich zu ihren Aufgaben erschienen. Solhis eigene Kompositionen waren stark vom ungarischen Komponisten Béla Bartók und später vom sowjetischen Komponisten und Pianisten Dmitri Schostakowitsch beeinflusst, wurden aber auch von arabischen Melodien und Themen gespeist.

Solhi al-Wadi: Trio für ein Klavier, eine Violine and ein Cello (Damaskus, 2008)

In den 90er Jahren verwirklichte Solhi einen weiteren seiner Träume und gründete das Nationale Symphonieorchester, das ihn auf internationalen Bühnen zu einem bekannten Dirigenten und Komponisten machte. Bis heute beeinflusst Solhis Leben Musiker aus der ganzen Welt. Die Gründung des High Institute for Music and Theatre, der Aufbau eines Orchesters von Grund auf und die Einführung von Kunst und modernem Tanz in die einzigartige künstlerische Landschaft Syriens, sind Leistungen, die nicht hoch genug geschätzt werden können. Die Generationen, die das Privileg hatten, unter seiner Leitung zu studieren, festigten seine Bewegung in den nachfolgenden Generationen und verbreiteten sie in andere Regionen der Welt, wo das Vermächtnis von Solhi al-Wadi bis heute gefunden werden kann.

| Nouri Iskander

Mit Nouri Iskander hat die syrische Musiklandschaft einen weiteren bedeutenden Musikwissenschaftler und Komponisten hervorgebracht. Iskander hat sich auf syrische Sakral- und Volksmusik spezialisiert und ist bekannt für seine einzigartige Mischung aus alten Volksliedern und zeitgenössischen Musikstücken.

Nouri wurde in Deir Ezzor als Sohn einer assyrischen Familie aus Urfa (Türkei) geboren und begann seine musikalische Laufbahn bereits in jungen Jahren, als er sich einer syrisch-orthodoxen Band anschloss. Er begann früh mit seiner Forschung von syrischer Volksmusik und eigenen Kompositionen. Er gründete nicht nur mehrere erfolgreiche Chöre, sondern komponierte auch eine große Auswahl an syrischen Volksliedern, darunter die Operette Parqāna (was so viel wie „Erlösung“ bedeutet) und O Habibo. Nouris Iskaner trug so maßgeblich dazu bei, syrische Musik für die kommenden Generationen zu erhalten. 1973 organisierte Nouri im UNESCO-Palast in Beirut sein erstes professionelles Festival, das der syrischen Musik gewidmet war. Dieses Konzert war wegweisend für viele weitere Auftritte, nicht nur auf syrischen Bühnen, sondern auch vor einem wachsenden internationalen Publikum. Was seine Kompositionen im Vergleich zu anderen seiner Zeit auszeichnete, war seine Leidenschaft für Verschmelzung von Maqām-basierter Musik mit zeitgenössischen klassischen Techniken und Ideen.

Nouri Iskanders Kompositionen I

Mn Wahy Alsaba – Nouri Iskandar Trio auf der Global Week for Syria in 2016
Zeitgenössische klassische Musik in Syrien
Festivalankündigung für Nouri Iskander © Hannibal Saad, Oriental Landscape

Im Jahre 2005 konnte ich es kaum glauben, als ich Nouri persönlich kennenlernen durfte. Ich war stets beeindruckt von der Kühnheit seiner Kompositionen, bei denen er Altes mit Neuem mischt, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen. Ich finde, seine zeitgenössischen Kompositionen vermeiden übermäßige konzeptionelle Ideen, während sie den Melodien treu bleiben, die er mit seinen Stücken absolut intuitiv erforscht.

In gewisser Weise ist es Nouri auch gelungen, ein tiefergehendes Verständnis der Maqām zu gewinnen, indem er alte Melodien aufgriff und sie in einen zeitgenössischen Rahmen setzte. Er hat sich davor nie gescheut, Mikrotöne in harmonischen Zusammenhängen zu verwenden, während andere Komponist*innen diesen Ansatz meist umgingen, um Dissonanzen zu vermeiden. Er war mutig genug, diese Mikrotöne in Akkorde zu integrieren, manchmal in Clustern, und so neue Klänge zu erfinden, während er musikalische Grenzen, fast wie ein nahöstlicher Alfred Schnittke, überschreitet.

Nouri Iskander´s Kompositionen II

Nouri Iskandar Oud-Konzert mit Streichquartett.
Oriental Miniature von Nouri Iskandar, gespielt von dem New European Ensemble in 2018

Neben seiner musikalischen Laufbahn ist Nouri auch für seine eingehenden musikwissenschaftlichen Forschungen bekannt, die von der UNESCO als wichtiger Ansatz für das Verständnis und die Erhaltung syrischer Musik anerkannt wurden. Über vier Jahrzehnte lang analysierte er syrische Melodien, Höhepunkt davon war ein von der UNESCO in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Buch über religiöse und traditionelle syrische Musik, das in den 90er Jahren veröffentlicht wurde. Iskander beschäftigte sich auch intensiv mit Werken des genialen syrischen Musikwissenschaftlers Mikhael Allah-Weirdi. Allah-Weirdi (1904-1978, Damaskus) schrieb ein umfassendes wissenschaftliches Buch mit dem Titel Philosophy of Oriental Music, in dem er die Verwendung natürlicher Tonleiter anstelle wohltemperierter Skalen erörterte. Ausgehend von der traditionellen Philosophie an orientalischer Musik und Mathematik versuchte er, perfekte Verhältnisse in den Notenintervallen zu finden, um eine Harmonie zu schaffen, die in Menschen ein Gefühl von Frieden hervorruft. Dabei entwickelte er konzeptionelle Methoden, die auch heute noch von an mikrotonaler Musik interessierten Komponisten aufgegriffen werden.

Seine Arbeit und die Diskussionen mit Nouri und vielen anderen haben mich sehr inspiriert. Aus dieser Inspiration heraus habe ich das Festival Oriental Landscapes ins Leben gerufen, um eine Plattform für Musiker zu schaffen, auf der sie verschiedene Genres der der Musik in Syrien studieren, diskutieren und aufführen können. Nouri hat mich dazu bewegt, tief in die Geschichte der Musik in Syrien einzutauchen und dabei den spirituellen Aspekt der arabischen Musik, ihre Verbindung zur Philosophie und Metaphysik der Musik kennenzulernen, und mir so eine völlig neue Seite der Musik in Syrien gezeigt, an die ich ohne ihn nicht gedacht hätte. Seinem Einsatz ist es zu verdanken, dass ich auch Archäomusikologen zu unserem Festival eingeladen habe.


| Andere Komponisten der Generation von Solhi al-Wadi

Solhi legte den Grundstein für eine solide klassische Musikausbildung, aber er war nicht allein. Es gab bereits mehrere Musiker*innen und Komponist*innen in der Szene, die es verdienen, erwähnt zu werden. 1957 dirigierte Solhi selbst ein Sinfonieorchester aus Musikern der Freunde des Kunstinstituts und der syrischen Polizeikapelle. Sie versuchten sich an der Egmont-Ouvertüre von Beethoven sowie an Werken von Schubert und Strauss. Einige der unbekannten Komponist*innen und Musiker*innen, die in diesen Arrangements mitwirkten, hatten nie die Chance, anerkannt zu werden, wie – um nur einen zu nennen – der verstorbene Ali al-Kafri (geb. 1953), der in Kairo Filmwissenschaft studierte und zahlreiche Musikwerke komponierte.

In Solhis Generation haben viele einen Beitrag zur klassischen Musikszene in Syrien und über die Landesgrenzen hinaus geleistet.

Andere Komponisten der Generation von Solhi al-Wadi:

Ein weiterer Komponist aus Solhis Generation ist der Aleppiner Diaa al-Sukkari (1938 – 2010), der in Paris studierte und von 1960 bis 1967 zusammen mit Solhi am Arabischen Institut unterrichtete, danach zog er dauerhaft nach Frankreich, um dort zu unterrichten. Er war ein sehr guter Geiger, konzentrierte sich aber mehr auf die Komposition. Beeinflusst von zeitgenössischen Komponisten wie Olivier Messiaen, komponierte er über 60 Musikstücke, in denen er versuchte, arabische Themen zu verarbeiten.

Der 1932 in Damaskus geborene Walid al-Hajjar ist ein vielseitig begabter Aristokrat. Schon in jungen Jahren studierte er beim russischen Baron Belling, ehemaliger Dirigent am Hof des Zar Nikolaus. Später, in den fünfziger Jahren, studierte er Kontrapunkt bei Madame Honegger in Paris und komponierte bei Edmond Marc am Conservatoire de Paris. In der Zwischenzeit studierte er Malerei an der École des Beaux-Arts bei dem Bildhauer Zadkin. Anschließend zog er in die USA, um seine akademischen Studien zu beenden und machte seinen Abschluss in Politikwissenschaften. Heute hat er vier Romane verfasst und schreibt weiterhin Artikel und Essays zu einer Vielzahl relevanter kultureller Themen, von denen fünfhundert auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht wurden.

Nuri Nuheibany zog 1959 nach Leipzig und studierte bei dem deutschen Komponisten Siegfried Thiele. Von Anfang an verwendete er arabische Musik und Themen und komponierte Stücke auf Grundlage arabischer Lieder, traditioneller Themen sowie christlicher und islamischer, religiöser Musik. Während er an mehreren deutschen Universitäten arbeitete und lehrte, komponierte er für Filme und Theater in Damaskus und entwickelte 1978 am Arabischen Musikinstitut ein Curriculum für Percussions unter Verwendung der Perkussionstechniken von Carl Orff.

Ein weiterer herausragender Komponist und Kontrabassist ist François Rabbat. Rabbat wurde 1931 in Aleppo geboren und zog 1955 nach Paris. Seither spielte er auf der ganzen Welt und komponierte zahlreiche Werke zeitgenössischer Musik. Er schrieb außerdem ein dreibändiges Werk Nouvelle technique de la contrebasse.


| Die Generation nach Solhi-al-Wadi

Solhi al-Wadi, Nouri Iskander und viele andere, die sich ihren Bemühungen angeschlossen hatten, legten den Grundstein für die klassische Musikausbildung in Syrien. Die nachfolgenden Musikergenerationen konnten von ihrer Pionierarbeit bedeutend profitieren. Kein Wunder also, dass die neuen Musikinstitutionen eine ganze Generation fantastischer Musiker*innen hervorgebracht haben, die die Musiklandschaft Syriens und darüber hinaus mit ihren ganz eigenen Werken bereichern. Obwohl es nicht möglich ist, alle syrischen Musiker*innen zu erwähnen, versucht dieser Artikel, ein wenig Licht auf die Bandbreite der musikalischen Talente in Syrien zu werfen.

Als Nachfolger von Solhi al-Wadi übernahm Dirigent Missak Baghbodarian das Orchester und Cellist Athil Hamdan übernahm die Leitung des Higher Institute of Music.

Entdecke andere Komponist*innen aus dieser Generation:

Geboren in Damaskus, studierte Zaid Jabri dort und zog dann nach Polen, wo er bei Krzysztof Penderecki promovierte. Zaid lebt seit drei Jahrzehnten in Krakau, Polen, und hat Dutzende von Stücken komponiert und an vielen renommierten Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten Vorlesungen gehalten.

Forschungen über die Werke von Zaid Jabri, Hassan Taha and Shafi Baddreddine, können hier nachgelesen werden: Shayna Silverstein, Transforming Space: The Production of Contemporary Syrian Art Music

Hassan Taha wurde 1968 in Homs, Syrien, geboren und lebt derzeit in Bern, Schweiz. Nachdem er sich die traditionelle arabische Musik selbst beigebracht hatte, schloss er 1998 sein Musikstudium in Horn und Oud am Higher Institute of Music in Damaskus ab. Im Jahr 2003 studierte er zeitgenössische Komposition am Konservatorium von Maastricht, Niederlande. Im Jahr 2012 erwarb er einen Master in Komposition an der Hochschule der Künste in Bern. Seine Werke wurden in Syrien, dem Libanon, der Türkei, Deutschland und der Schweiz aufgeführt. 2010 wurde er von der Stiftung Pro Helvetia Arts, Schweiz, als „Artist in Residence“ eingeladen. Er hat Workshops mit den beiden Komponisten Vinko Globokar und Helmut Oehring geleitet.

Forschungen über die Werke von Zaid Jabri, Hassan Taha and Shafi Baddreddine, können hier nachgelesen werden: Shayna Silverstein, Transforming Space: The Production of Contemporary Syrian Art Music

Der syrisch-amerikanische Kareem Rustom stammt aus Squeilbieh (Syrien) und lebt heute in Boston, USA. Kareem Rustom, der in den musikalischen Traditionen des Nahen Ostens verwurzelt und in westlicher Konzertmusik und Jazz ausgebildet ist, ist ein musikalisch zweisprachiger Komponist, der mit einem breiten Spektrum von Musikern zusammengearbeitet hat, von Kronos Quartett bis Shakira. 

Shafi Badreddine wurde in Sweida, Syrien, geboren und schloss 1998 sein Studium an der Hochschule für Musik als Klarinettist, Oud-Spieler und Spezialist für Kompositionstheorie ab. Shafi studierte Komposition in Lyon und Dirigieren in Dijon. Danach kehrte er nach Damaskus zurück, um ein Orchester zu gründen und zu leiten. Er hat viele bedeutende zeitgenössische Werke geschaffen und war bei vielen unserer Oriental Landscapes-Festivals zu hören. Seit 2010 lebt Shafi in Luxemburg, wo er das Ornina Syrian Orchestra gegründet hat. Seine Werke konzentrieren sich auf orientalische Musik mit einem zeitgenössisch-klassischen Ansatz, und er ist in den meisten europäischen Städten als Musiker und Dirigent aufgetreten. 

Forschungen über die Werke von Zaid Jabri, Hassan Taha and Shafi Baddreddine, können hier nachgelesen werden: Shayna Silverstein, Transforming Space: The Production of Contemporary Syrian Art Music

Der irakisch-syrische Geiger, Komponist und Dirigent Raad Khalaf schloss 1990 sein Studium in Moskau ab und zog dauerhaft nach Damaskus, wo er am Higher Institute of Music unterrichtete und seit Gründung des Syrischen Symphonieorchesters im Jahre 1992 dessen erster Geiger war. Er gründete das Damaszener Streichquartett, Zeryab-Orchester und das nur mit Frauen besetzte Mari-Orchester. Er komponierte für Kino, Theater und Fernsehserien, aber auch für viele Opern, wie die Oper Avicenna, die als erste arabisch produzierte Oper in Doha, Katar, erstaufgeführt wurde. Seine Kompositionen wurden von arabischen Themen und Ideen inspiriert, er bezog aber auch antike Themen mit ein und verwendete u. a. alte mesopotamische Musikinstrumente, die er speziell für seine Kompositionen gebaut hatte.

Der in Damaskus geborene und in New York lebende Kinan Azmeh ist meiner Meinung nach der bei weitem aktivste syrische Musiker. Er bringt seine Musik als Solist, Komponist und Improvisator in alle Welt. Zu den bemerkenswerten internationalen Auftritten gehören Opera Bastille in Paris, Tschaikowsky-Saal in Moskau, Carnegie Hall und UN-Generalversammlung in New York, Hamburger Elbphilharmonie und viele andere. Zu Kinans Kompositionen gehören mehrere Werke für Solo-, Kammer- und Orchestermusik sowie Musik für Film, Live-Illustration und Elektronik. Seine jüngsten Werke wurden von vielen renommierten Orchestern in Auftrag gegeben, darunter New Yorker Philharmoniker, Saint Paul Chamber Orchestra, Apple Hill String Quartet, Cello Octet Amsterdam, Aizuri Quartet, Bob Wilson und viele andere.

Rami Chahin erwarb seinen B.A. am Damaskus Higher Institute of Music (1999). Er promovierte in Komposition, Musiktheorie und Musikwissenschaft an der Universität Oldenburg, Deutschland, bei Prof. Violeta Dinescu und Prof. Dr. Joachim Dorfmüller mit der Arbeit „Towards a Spectral Microtonal Composing: Eine Brücke zwischen arabischer und westlicher Musik“ sowie mit seiner mikrotonalen und spektralen Kompositionsoper Qadmus. Er erwarb einen Master in Komposition an der National University of Fine Arts and Music in Tokyo.

Basilius Alawad ist ein syrischer Cellist und Komponist, der in Berlin lebt. Er studierte zwischen 2011 und 2013 am High Institute of Music in Damaskus, wo er als Gastcellist und Solist mit dem Syrian National Symphony Orchestra auftrat. Basilius hat seine eigenen Kompositionen u.a. in der Berliner Philharmonie, im Pierre Boulez Saal, beim Rudolstadt Fest und im Muziekgebouw aufgeführt. Erst kürzlich wurde er mit dem “Ettijahat for Independent Culture“-Förderpreis ausgezeichnet, um sein selbst komponiertes Album “Black Cotton“ zu produzieren. Basilius hat einen Soundtrack für arabische Youtube-Serien und Kurzfilme komponiert und gerade seine erste elektronische Musiksingle mit dem Titel “Tal Elleil“ veröffentlicht.

Basilius studiert außerdem Cello in einer Klasse von Sennu Laine an der Barenboim-Said Akademie in Berlin, wo er an Workshops, Vorträgen und Kammermusik unter der Leitung von Daniel Barenboim, Michael Barenboim und Michael Wendeberg teilnimmt. Für mehr Informationen, besuchen Sie seine Webseite hier


| Die aufstrebende jüngere Generation

In Syrien gibt es inzwischen mehrere junge Komponist*innen, darunter viele Talente wie Suhaib al-Samman (geboren in Damaskus), Wassim Ibrahim (geboren in Sweida, heute in Krakau/Polen lebend) und Mehdi al-Mahdi, der in Damaskus geboren wurde und nach wie vor dort lebt. Alle drei Komponisten behandeln in ihren Kompositionen arabische und regionale Themen.

Behind the Death, Streichquartett and Orchester mit Wassim Ibrahim
Suhaib Al-Samman mit dem National Arabic Orchestra am National Center for Visual Arts, unter der Leitung von Adnan Fathallah

Suhaib und Mehdi sind bisher unentdeckte Musiker, aber ich glaube, sie arbeiten hart an ihrer Karriere, während sie in Syrien leben. Zwei weitere junge Komponisten sind Nadim Husni, der in Polen lebt und komponiert, und Shalan Al Hamwi, der in Belgien lebt und komponiert.

All diese Musiker*innen und Komponist*innen haben die Landschaft der klassischen Musik auf syrischen und internationalen Bühnen mitgestaltet. Sie haben dazu beigetragen, Traditionen fortzuführen und gleichzeitig neue Innovationen zu schaffen. Und wir können sicher sein, dass es noch viele weitere geben wird…

Titelbild: © Zaid Jabri

Baumwollsaison in Raqqa

von Jabbar Abdullah

Der Baumwollanbau gilt als eine der wichtigsten Landwirtschaftszweige von Raqqa. In der Baumwollproduktion steht die Stadt Raqqa an erster Stelle unter den syrischen Städten, mit mehr als  135.000 Hektar Anbaufläche und mehr als 250.000 Tonnen Baumwolle, die jährlich produziert werden. Das Jahreseinkommen aus diesem Landwirtschaftszweig gilt als eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Menschen in Raqqa, die vom Landwirtschaften leben. Dieses Einkommen beinhaltet nicht nur Verkauf der Produktion am Jahresende, sondern auch das Einkommen vieler Arbeiterinnen und Arbeitern, die für einen bestimmten Lohn während der langen Saison von Mai bis September arbeiten.

Baumwollsaison in Raqqa
Baumwollernte in Raqqa | Foto: Ali Abdullah

Meine Familie besitzt ebenfalls Ländereien, auf denen mein Vater Baumwolle anpflanzte. Ich erinnere mich noch gut an die Baumwollernte als ich noch ein kleines Kind war. Wir halfen alle mit. Sobald meine Schule um 12 Uhr endete rannte ich nach Hause, warf meine Bücher in mein Zimmer und befreite mich von meiner Uniform. Nach einem schnellen Essen, lief ich rüber auf das Feld. Oft konnte ich meine Mutter in der Menge der vielen Arbeiterinnen nicht finden. Dazu kam, dass ich äußerst schüchtern war. So lief ich statt nach ihr zu rufen durch die Bahnen des Feldes an allen Leuten vorbei und versuchte die Stimme meiner Mutter zu hören.

Oft hatte ich Pech. Aber wenn ich sie fand, freute sie sich immer mich zu sehen. Dann half ich ihr ein bisschen bei der Ernte, brachte ihren Sack zur Waage und versorgte sie mit Wasser. Meine Mutter hatte flinke Finger und verrichtete gute Arbeit – oft versuchte ich ihre Fingertechnik bei der Ernte nachzuahmen und endete nach wenigen Minuten mit blutigen Fingern und müden Händen. Trotz allem könnte ich einiges über die Baumwollernte und dessen verschiedenen Arbeitsphasen lernen.

| Landbewirtschaftung

‎Die erste Arbeitsphase besteht darin, das Land mit speziellen Traktoren zu pflügen, die Samen maschinell zu pflanzen und danach wird das Land in große Quadrate eingeteilt, die oft eine Oberfläche von ungefähr hundert Quadratmetern oder auch mehr haben. Die Seiten der Quadrate werden von Erdhügeln umgeben, von denen jeder eine Höhe von etwa 40 cm und einn Durchmesser von 50 cm hat. Zwischen jeder Reihe von hintereinanderliegenden Quadraten werden entlang des Ackerlandes Bewässerungskanäle gezogen, die eine Breite von mehr als einem Meter habent. Das Ziel bei der Schaffung von Erdhügeln und Bewässerungskanälen besteht darin, die Baumwolle später mit ausreichend Wasser zu versorgen, da Baumwolleeine große Menge Wasser benötigt. Der Bewässerungsvorgang muss mehr als sieben Mal im Laufe der Saison geschehen. Bei jedem Bewässerungsvorgang werden die Bewässerungsplatten vollständig mit Wasser ausgefüllt. Das Gießen wird normalerweise von einer Person durchgeführt, die als saqi (Gießer) bezeichnet wird und ein Werkzeug benötigt, das als karoke (Schaufel) im Volksmund bezeichnet wird. Bei der Bewässerung wird das Wasser durch den Bewässerungskanal geleitet. Zu Beginn jeder Bewässerungsplatte wird eine Öffnung im Erdhügel des Bewässerungskanals gemacht, während gleichzeitig ein Erdhügel im Bewässerungskanal gebildet wird. Auf diese Weise wird das Wasser aufgefangen, damit es in die Zielplatte fließt. Normalerweise benötigt die Bewässerungsplatte einen Zeitraum von mehr als einer halben Stunde, um sich vollständig zu füllen. Der Gießer muss von Zeit zu Zeit eine oder mehrere Runden auf allen vier Plattenerdhügeln laufen, um sicherzustellen, dass die Platte nicht aufgrund des Wasserdrucks Risse bekommt und dann das Wasser austritt. Eine zeitaufwendige Arbeit, aber der Gießer ist schlau und weiß, wir er effektiv Zeit sparen kann: Falls er mehr Zeit zum Essen oder Trinken von Tee haben möchte, teilt er das Wasser gleichzeitig in zwei Platten auf, indem er eine Öffnung in einem der gemeinsamen Erdhügeln macht und so mehr Zeit gewinnt, damit er Brennholzstangen sammeln und unter der Teekanne ein Feuer anzünden kann.  

‎Etwa anderthalb Monate nach der ersten Bewässerungsphase wachsen die Pflanzen etwa zwanzig Zentimeter hoch über dem Boden. Nun muss das Unkraut entfernt werden, das zwischen den Baumwollpflanzen gewachsen ist, was als „Taafesch“ in der Umgangssprache bezeichnet wird. Diese Aufgabe wird oft von Frauen erledigt, die gemeinsam arbeiten. Die Arbeit wird unter Gruppen geteilt, die als Workshop bezeichnet wird. Die Gruppen werden von einem Mann namens „Schawiesch“ koordiniert. Diese freiberufliche Aufgabe wird gewöhnlich von einem Mann ausgeführt, der über langjährige Erfahrung in dieser Arbeit verfügt. Die Qualität seiner Arbeit erfordert Erfahrung, Vertrauen und guten Umgang mit Arbeitern und dem Eigentümer des Ackerlands. Mit jedem Schawiesch arbeiten meist zwanzig und fünfzig Angestellte. Seine Hauptaufgabe besteht darin, zwischen dem Landeigentümer und den Arbeiterinnen hinsichtlich der Arbeitsstunden, der Art der Aufgaben und des Transports der Arbeiterinnen zum Ackerland sowie finanzieller Angelegenheiten zu koordinieren. Am Ende ist der Schawiesch der erste und letzte Verantwortungsträger zwischen den beiden Parteien und dafür muss er sicherstellen, dass der Ackerlandeigentümer mit der Arbeit zufrieden ist. 

| Unkrautjäten und Beschneiden der Sträucher  

Zu Beginn jeder Saison setzen sich die Ackerlandeigentümer mit dem Schawiesch in Verbindung, um Termine für die Taafesch-Phase und die nachfolgenden Phasen zu bestimmen. Jeder Schawiesch nimmt normalerweise mehr als 40 Hektar pro Jahr an, abhängig von der Anzahl seiner Angestellten in seinem Workshop.

Baumwollsaison in Raqqa
Arbeiter in ihrer Pause | Foto: Ali Abdullah
Baumwollsaison in Raqqa
Arbeiter in ihrer Pause | Foto: Ali Abdullah

Die Taafesch-Phase, also das Unkrautjäten beginnt normalerweise um fünf Uhr morgens. Nach zwei Arbeitsstunden wird eine  Frühstückspause zu machen. Für die Frühstückspause bereitet der Schawiesch große Teekannen vor, in denen fünf Liter Wasser mit Reisegas gekocht werden können – eines der wichtigsten Werkzeuge des Schawiesch. Nach der Pause wird die Arbeit bis elf Uhr mittags fortgesetzt, wenn die Mittagshitze so heiß zum Arbeiten wird, dass. Zu dieser Zeit bringt der Schawiesch die Arbeiterinnen zu ihren Häusern zurück, damit sie eine längere Mittagspause haben. Nach der Pause arbeiten sie nochmal drei Stunden bis zu ihrem Feierabend. Zum Unkrautjäten benötigt man eine Spitzhacke, mit dem Unkraut zwischen Baumwollpflanzen durch das Herausschneiden der Unkrautwurzeln entfernt wird. Hier spielt die Geschicklichkeit eine wichtige Rolle, damit die benachbarten Baumwollbäume nicht beschädigt werden, wenn sie das Unkraut mit der Spitzhacke entwurzelt.

Nach der Taafesch-Phase folgt das Beschneiden der Pflanzen, in der die Dichte der Baumwollbäume durch manuelles Pflücken der überschüssigen Baumwollpflanzen verringert wird. Diese Phase ist wichtig, um einen bestimmten Abstand zwischen einem Baum und dem anderen zu schaffen. Die Bäume müssen später ausreichend Abstand haben, damit die Zweige atmen und sich ohne aneinanderzuschlagen im Wind bewegen können. Die einzeln gepflückten Baumwollpflanzen werden normalerweise in große Säcke gefüllt, um sie an die Schafe und das Vieh zu verfüttern.

Danach werden die Pflanzen mit einem chemischen Düngemittel gedüngts, um die Wurzeln der Pflanze zu stärken und ihr die erforderliche Fruchtbarkeit zu verleihen. Diese Phase wird gewöhnlich von Männern durchgeführt und findet in zwei verschiedenen Zeiträumen statt. Nach jeder Phase muss das Feld direkt am selben Tag bewässert werden, damit die Pflanzen nicht von der Hitzeentwicklung durch das Düngemittel verbrennen. Die Befruchtungsphase ist eine schnelle Phase, in der nur die Hände verwendet werden. In dieser Phase bekommt der Arbeiter eine bestimmte Menge Dünger in einem Stück Stoff. Dieser Schal wird von seinen vier Seiten an die Taille des Arbeiters gebunden, damit er am Ende etwas formt, das wie eine von oben offene Tasche aussieht. Der Mann nimmt dann eine Handvoll Dünger, um sie ebenmäßig nach links und rechts zu verteilen.

Nach einigen Monaten erreichen die Baumwollbäume eine Höhe von mehr als 60 Zentimetern, wobei die Blätter dicht und breit geworden sind und eine hellgrüne Farbe haben. An ihren Zweigen hängen die Baumwollblumen, die zu reifen begonnen haben.

| Die Saison des Baumwollpflücken

Im September beginnt die Baumwollerntephase. Sie wird von bestimmten Aktivitäten begleitet, die der allgemeinen Atmosphäre eine wunderbare Stimmung und eine Freude an der Ernte und ihrem Gewinn für alle Menschen der Stadt verleihen.

Der erste Tag beginnt mit einer morgendlichen Rundfahrt, wobei der Schawiesch bei den Häusern aller Angestellten nacheinander ab vier Uhr morgens hupend vorbeifährt, um sie einzusammeln. Die Dauer der Rundfahrt und der Zugang zum Ackerland dauert ungefähr eine Stunde. Sobald das Ackerland erreicht wird, werden alle auf die Fläche mit zwei Metern Abstand. Dieser Abstand definiert die jeder zugewiesene Erntefläche, die sich vom Beginn des Feldes bis zu dessen Ende erstreckt. Die Arbeiterin benötigt einen Plastiksack, um die Baumwolle zu sammeln, die sie pflückt. Die Arbeiterin legt die Ernte nicht sofort in die Tasche, sondern sammelt vorher das, was sie gepflückt hat, in einem für diesen Zweck passenden Rock, den sie trägt; sie biegt ihr Kleid und bindet es an die Taille, wodurch eine kleine Lücke entsteht, in die sie die gepflückte Baumwolle legt und wenn der Rock mit zwei oder drei Kilogramm gefüllt ist, leert sie die Menge in die Plastiktüte.

Nachdem die Tasche voll ist, bringt sie diese zur Waage, damit der Schawiesch die Baumwolle wiegt. Danach schreibt er das Gewicht mit Datum und Uhrzeit auf die für jede Arbeiterin vorgesehene Seite.

Verpacken der Baumwolle

Nach dem Wiegen nimmt einer der Männer die Plastiktüte, um sie in einen Jutesack zu entleeren, der etwa 200 Kilogramm Baumwolle enthalten kann. Dort werden sie von den Männern mit ihren Füßen komprimiert. Der Sack wird gewöhnlich in ein gegrabenes Loch platziert, um ihn zu fixieren. . Nachdem der Jutesack gefüllt ist, wird seine Öffnung mit einem speziellen Baumwollfaden netzförmig vernäht.

Baumwollsaison in Raqqa
Verpacken der Baumwolle | Foto: Ali Abdullah

Jede Arbeiterin erntet normalerweise zwischen siebzig und achtzig Kilogramm pro Tag. Die Arbeit in der Erntesaison wird aufgrund des kühleren Wetters von morgens bis abends ohne zwischenzeitliche Pause fortgesetzt. Die Zeit vergeht normalerweise schnell. Die Frauen sprechen während der Arbeit miteinander und von Zeit zu Zeit sind von hier und da Gesänge zu hören und manchmal kommt es zu leichten Streitigkeiten, insbesondere wenn eine Arbeiterin die Reihe der anderen Arbeiterin überschreitet. Der Shawiesh ist verantwortlich dafür die Arbeit anhand der geernteten Büsche zu bewerten. Wenn die Baumwollbüsche keine Wollreste enthalten, war die Arbeiterin gut und die Ernte ist sauber.

Baumwollsaison in Raqqa
Überprüfung der Baumwolle | Foto: Ali Abdullah

Quality Check

Der Schawiesch schaut sich den Inhalt der Plastiktüten genau an, während er in den Jutesack geleert wird, um sicherzustellen, dass die Baumwolle sauber und frei von Baumwollbaumblättern und Buschwerk ist. In die Baumwolle gemischte Blätter wirken sich auf den Ackerlandeigentümer aus, wenn er die Ernte verkauft, da diese von Spezialisten untersucht und bewertet werden, was sich auf den Preis auswirkt.

Nach Beendigung der Ernte wird die Baumwolle in einem von einem Traktor gezogenen Anhänger zum staatlichen Baumwollzentrum transportiert. Dort warten die Fahrer aufgrund der großen Anzahl von Traktoren oft ein oder zwei Tage unter freiem Himmel daraufan die Reihe zu kommen,. Nach etwa zwei Monaten gibt der Staat eine Entscheidung bekannt, wie hoch die Erntesummen ist, die an die Landwirte ausgezahlt wird. Dann geht jeder Landwirt mit der dafür ausgegebenen Quittung zu einem bestimmten Zentrum, um sein Geld abzuholen. Danach kommuniziert jeder Bauer mit dem Schawiesch, um ihm das Ernteentgelt zu übergeben. Der Schawiesh macht seinerseits eine Rundfahrt mit seinem Auto zu den Häusern aller Arbeiterinnen, während er das Geld in einer großen Tasche trägt. Er hält sich gut eine halbe Stunde in jedem Haus auf, wo er von den Arbeiterinnen des Hauses umgeben ist, sein Notizbuch öffnet und die Erntemenge jeder Arbeiterin berechnet. Das Feiern beginnt, wenn die Arbeiterinnen ihr Entgelt bekommen haben.

| Galerie: Baumwollernte an anderen Orten in Syrien

Titelbild: Kimberly Vardeman – CC BY 2.0