von Karin Pütt

Mit einer Pilgerfahrt gedenken Armenier:innen aus aller Welt der Opfer der Todesmärsche 1915 und 1916. Zentrum dieses Gedenkens ist eine Erinnerungsstätte in Dayr az-Zawr, die während der Herrschaft des sogenannten IS stark geschädigt worden war. Sie konnte jedoch originalgetreu wieder aufgebaut werden. Unsere Autorin Karin Pütt nahm 2004 an der alljährlichen Pilgerfahrt teil.

Feierlich langsam zieht eine Prozession durch Aleppo. Tausende Armenierinnen und Armenier säumen die Straßen, Gruppen von Jugendlichen, Kirchendienern und Chorsängern in Ornaten gehen mit ihren geistigen Oberhäuptern, den Patriarchen von Kilikien und Armenien, zur Kirche der vierzig Märtyrer in der Altstadt. Längst nicht allen Menschen bietet die armenische Kirche der 40 Märtyrer Platz, eng gedrängt stehen sie auch im Hof und auf der Straße.  Jedes Jahr am 24. April gedenken die Armenier*innen weltweit der Toten des Genozids von 1915/16.

Erinnerungsorte des Völkermords an den Armenier:innen
Armenierinnen und Armenier jeden Alters nehmen an der großen Prozession in Aleppo teil, die an den Völkermord an ihren Vorfahren erinnert | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

1915 war Aleppo einer der großen Sammelpunkte, von denen aus die Deportierten in die Syrische Wüste nach Dayr az-Zawr geschickt wurden. Aus fast allen Teilen des Osmanischen Reiches waren die Menschen in oft schon Wochen dauernden qualvollen Todesmärschen hierher getrieben worden: Frauen, Kinder, alte Menschen.

Auffallend viele junge Menschen, aber auch ältere Armenier:innen aus Syrien, den umliegenden Ländern, aus Europa und Amerika sind zu den Gedenkfeierlichkeiten angereist. Im Anschluss an den Gottesdienst besteigen wir bereitstehende Busse, um zu den Orten des Todes des armenischen Volkes zu fahren. 

Dort wo heute die gut ausgebaute Landstraße in einigen Kilometern Entfernung parallel zum Euphrat verläuft, wurden in den Jahren 1915 und 1916 die Deportierten vorwärts getrieben. Sie starben am Wegrand und in den Lagern an Durst, Hunger, Erschöpfung, Misshandlungen und Krankheiten. Selbst in den Euphrat hatten sich damals Armenierinnen gestürzt, um von ihren Qualen erlöst zu sein. Bis heute erzählt man sich in den anliegenden Dörfern, wie über Wochen Leichen im Euphrat trieben.

Am Gedenkort in der heutigen Provinzhauptstadt Dayr az-Zawr am Euphrat, halten die Busse vor einem Bauwerk, das sich von den einfachen Betonbauten der Umgebung unterscheidet: Buntsandstein verkleidet die zweigeschossige Anlage mit schmalen, hohen Rundbogenfenstern im Obergeschoss und einer langen, nach oben führenden Treppe – die einzige Möglichkeit, die Anlage zu betreten. Die Treppe soll an den Leidensweg des armenischen Volkes erinnern. Im grellen Sonnenlicht erreichen die Menschen das gepflasterte Plateau, das ringsherum von Räumen, der Kirche und Arkaden begrenzt ist. Die Gedenkstätte der armenischen Märtyrer wurde vom syrisch-armenischen Architekten Sarkis Balmanoukian entworfen und 1991 eingeweiht.

The street facade of the Memorial - the concentration camp was once located in this part of Dayr az-Zawr
Die Straßenfassade des Memorials – das Konzentrationslager lag einst in diesem Teil von Dayr az-Zawr | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Armenians from Dayr az-Zawr waiting the pilgrims from Aleppo
Armenier:innen aus Dayr az-Zawr erwarten die Pilger:innen aus Aleppo | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Die Pilger:innen zieht es als Erstes in die himmelwärts strebende kleine Kirche, die die gesamte Anlage dominiert. Der Zentralbau mit achteckigem bzw. rundem Grundriss mit seinem mittigen Turm zeigt die typischen Elemente armenischer Sakralarchitektur: Fassaden aus Naturstein mit sparsamem geometrischem Bauschmuck und schmalen Rundbogenfenstern, die das Kircheninnere erhellen. Exakt in der Mitte des Innenraums steht eine weiße Marmorstele, die in einem ziselierten Kreuz, einem armenischen Chatschkar, ausläuft. Die Augen noch ortsunkundiger Pilger:innen gehen entlang der Stele nach unten: ein Loch im Fußboden gibt den Blick in die Krypta im Untergeschoss frei, wo am Fuß des Marmorpfeilers Gebeine liegen. In der Unterkirche sieht man von Nahem, dass die Gebeine auf Krumen jener Erde gebettet sind, in der sie gefunden wurden. Junge Leute stehen erschauernd vor diesen Knochen hinter Glas.

The church of the memorial on the 24th April 2004
Die Kirche des Memorials am 24.4.2004 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
The central stele in the lower church, around which bones of victims are kept
Die zentrale Stele in der Unterkirche, um die herum Gebeine von Opfern aufbewahrt werden | Wikimedia: CC BY 2.0

Die Gedenkstätte liegt auf dem Gelände des ehemaligen Lagers in Dayr az-Zawr.

Nur wenige der Jugendlichen zieht es in den kleinen Museumsraum nebenan. Ihnen sind die Daten, Fakten und Bilder des Genozids nur zu vertraut. Dort lerne ich einen jungen Armenier kennen, der auf eigene Faust Gebeine in Nordostsyrien ausgegraben hat, um dort Spuren armenischen Lebens nachzuweisen und die Knochen würdig zu bestatten.
Gegen drei Uhr nachts kommen weitere Busse mit Pilger:innen aus Damaskus und aus dem Libanon an. Nach einer kurzen Rast an der Gedenkstätte fahren sie zusammen mit den Aleppiner Bussen entlang des Euphratnebenflusses Khabur nach Norden. Eineinhalb Stunden passieren wir die karge Wüstensteppe, bis sich ein markanter kleiner Bergkegel abzeichnet. Am Straßenrand halten die Fahrzeuge, und hunderte Menschen strömen im Morgengrauen den Berg hinauf. Sie sammeln sich zu einer Messe vor der dortigen kleinen Kapelle. Erst im Jahr 1999 hatte die armenisch-orthodoxe Gemeinde sie dort errichten lassen. Hier, bei dem heutigen Ort Margada, wurden Tausende von Gebeinen gefunden, die von einem Massaker zeugen, das dort stattgefunden hat.

Pilgrimage of Armenians on the 24th April to the memorial of Marghada: Pilgrims digging for human remains in the earth
Wallfahrt der Armenier am 24.4. zur Pilgerstätte Marghada: Pilger graben nach menschlichen Überresten in der Erde | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Pilgrimage of Armenians on the 24th April to the memorial of Marghada
Wallfahrt der Armenier am 24.4. zur Pilgerstätte Marghada | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Es ist schon Mittag, als wir wieder zur Gedenkstätte nach Dayr az-Zawr zurückfahren. Im Hof singt der über fünfzigköpfige Kirchenchor aus Aleppo religiöse Lieder, bis der Hauptgottesdienst in der Kirche stattfindet. Dicht an dicht gedrängt stehen die Menschen und folgen dem Gottesdienst, der von den beiden Patriarchen zelebriert und nach draußen übertragen wird. Ein Raunen geht durch die Menge auf dem Hof, als sich die seitliche Kirchentür öffnet und die Patriarchen erscheinen. Gemessenen Schrittes schreiten sie zu einer Nische am Rande der Plattform und zelebrieren an der ewigen Flamme das Requiem für die Märtyrer. Für Armenier:innen auf der ganzen Welt steht der Name Dayr az-Zawr für den Versuch, ihr Volk zu vernichten. In dieser Stadt hat die Erinnerung einen würdigen Ort erhalten, der dank Spenden auch nach seiner teilweisen Zerstörung durch den sogenannten IS wieder aufgebaut werden konnte.

إنشاد جوقة حلب الأرمنية في ذكرى تخليد الأرمن في 24 نيسان عام 2004
Der armenische Chor aus Aleppo singt im Memorial am 24.4.2004 | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)
Erinnerungsorte des Völkermords an den Armenier:innen
Armenische Jugendliche verteilen frisches Fladenbrot an die Pilgerinnen und Pilger | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Titelfoto: Am Völkermord-Gedächtnistag: bei einem Halt auf der Pilgerfahrt werfen armische Geistliche Kränze in den Euphrat, um an die Opfer des Genozids von 1915-16 zu erinnern, die gerade auch in diesem Fluss starben | Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Karin Pütt: Karin Pütt arbeitet zu traditioneller Architektur und Kultur in Syrien. Im Zuge der Feldforschungen für ihre Doktorarbeit „Zelte, Kuppeln und Hallenhäuser – Wohnen und Bauen im ländlichen Syrien“ stieß sie auf das Thema der armenischen Waisen, die den Völkermord überlebt hatten und sich in der syrischen Jazira ansiedelten. Daraus entwickelte sich ein tieferes Interesse an armenischen Spuren in Syrien.

Seit 2013 gehört sie zum Team des Syrian Heritage Archive Projects des Museums für Islamische Kunst in Berlin.

ِAutorenschaft von Hiba Bizreh

Archäologin aus Syrien. Arbeitete am Syrian Heritage Archive Project in der Zeit von 2018-2019

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