von Gabriele Conrad-Hamzé

Die Schatten wurden länger. Er überquerte bedächtigen Schrittes, beinahe schlafwandlerisch, die große Dachterrasse. Er war barfuß, genoss die Kühle unter seinen heißen Sohlen, schlenderte hinüber zur steinernen Brüstung der Zitadelle, lehnte sich an sie, um hinüberzuschauen über die Zinnen und flachen Dächer der Ruinenstadt aus schwarzem Basalt. Der Ruinenstadt, in der noch Menschen leben und ihrem Tagwerk nachgehen, als hätte ein Wind sie durch die Zeiten getragen. 

Das war es, was Busra einen so eigenartigen Reiz verlieh. Die Antike floss hinüber ins Jetzt, das Jetzt glitt hinüber in die Antike.  Wie viele Nächte mochte er nun schon in diesem kargen Turmzimmer verbracht haben? Sinnend, lesend, schreibend, sein schmales, hartes Lager meidend, da der Schlaf ihn floh? Er dachte an den Freund, den herausragenden Wissenschaftler und leidenschaftlichen Menschen, der viel zu früh verstorben war.** Die prägendsten Erinnerungen an ihre Freundschaft waren gebunden an eben diesen Ort, der sie beide in ihrer Wissenschaft forderte… Deshalb musste er zurückkommen, hierher. … Er sah hinunter auf die Kolonnade, auf den im Licht der untergehenden Sonne leuchtenden schwarzen Pflasterstein der Antike. … Nur hier konnte er den Freund noch einmal finden, in dieser großen Ruinenstätte, aus der sie beide geschöpft hatten, die ihre Phantasie beflügelte. 

Busra, Blick auf das römische Theater im Inneren der aiybidischen Zitadelle
Blick in das römische Theater, das von der ayyubidischen Zitadelle umschlossen ist, Busra 1999 | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Busra, Blick auf die ayybidische Zitadelle, die das römische Theater umschließt.
Blick auf die ayyubidische Zitadelle, die das römische Theater umschließt, Busra 1995 | Christine Englmann (CC-BY-NC-ND)

Er plauderte erstmals mit den Kindern, die seinen Weg kreuzten, schäkerte und machte übermütig seine Späße mit ihnen. Sie stürmten zusammen durch die engen, verschatteten Gassen von Busra, sprangen kühn über die Steinquader am Wegrand, jagten sich um die Säulen. Und sie lachten und schrien und tobten ausgelassen. Bis sie endlich ermattet zwischen den verstreut herumliegenden Steinfragmenten und Säulenstümpfen niedersanken. Es begann Abend zu werden. Die Kinder liefen nach Hause, in alle Richtungen. Zum Westtor, zum Nabatäertor, zur Zitadelle, zur Basilika, zur Zisterne, zur Moschee, zum Hammam Manjak, hinter die Thermen, zum islamischen Museum, zur Madresse. Von da und dort vernahm man das Rufen ihrer Mütter, lang hingestreckte Laute ihrer Namen.

Busra, Kathedrale. Ruinen der Basilika der Heiligen Sergius, Bacchus und Leontius, erbaut im 6. Jahrhundert n.Chr.
 Ruinen der Basilika der Heiligen Sergius, Bacchus und Leontius, erbaut im 6. Jahrhundert n. Chr., Kathedrale von Busra 2001
| Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Busra, Das sog. "Nabatäische Tor", das Osttor
Das im Osten gelegene „Nabatäische Tor“, Busra 1975
| Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Busra, Blick auf das Westtor des Decumanus Maximus
Blick auf das Westtor des Decumanus Maximus, Busra 1999 | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Busra, Blick auf den Decumanus Maximus nach Westen, vom Nymphäum aus gesehen.
Blick auf den Decumanus Maximus nach Westen, vom Nymphäum aus gesehen, Busra 1990
© Laszlo A. Kéry (CC-BY-NC-SA)

Schrill zirpten die Grillen, die heiße Sommerluft schwirrte von ihrem Flügelschlag. Wind kam auf, wehte herüber aus den Ebenen. Daniel wandte sich zur Säulenstraße, denn er liebte es über den römischen Pflasterstein zu schreiten, der seine Phantasie beflügelte, ihn inspirierte, wie nur wenige Dinge in seinem Forscherleben. …

Er lenkte seinen Schritt zur Großen Moschee, hin zum Hammam Manjak, der islamischen Badeanlage, ausgegraben einst von seinem toten Freund. Dort hoffte er Trost zu finden, denn er wusste sich ihm nahe an diesem Ort, wie sonst an keinem. Durch seine Nähe und die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre der Arbeit würde Kraft auf ihn überfließen, würde sein Warten ausgefüllt. Er erreichte das Bad, vom Mondlicht umflutet, weiß silbern in seiner Helle.  

Die Große Moschee und das Bad warfen lange Schatten. Die Stadt war still, kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu vernehmen. …. Den Frieden, diese göttliche Stille, die Heiligkeit der Stunde zu wahren, setzte er behutsam seine Schritte. Er näherte sich dem Hammam. Jeden Schritt bewusst setzend, sachte, leise. Er berührte die Mauer, tastete ehrfürchtig über die schwarzen Quader mit der Hand des Wissenden, schritt bedächtig an der im Mondlicht matt schimmernden Wand entlang, bis er die bogenförmige, fensterartige, mit Schmiedeeisen verkleidete tiefe Öffnung zur Straßenseite erreichte. Er verweilte sinnend einen kurzen Augenblick. Er dachte an seinen Freund. Und sah vor sich die Anfänge dieser Grabung einst im November, auf den viele November folgten. Wenn die kalten Winde aus der Ebene drehen und durch die Ruinen fegen. Novembertage, in denen sie froren, sich mühten in harter Arbeit. Aber der Drang nach Erkenntnis und die Hoffnung, dieser bald teilhaftig zu werden, erfüllten diese Tage dennoch mit Heiterkeit. … Lange betrachtete er das Monument und er wusste sich und seinen Freund belohnt. … Er bewegte sich, seine rechte, vom Mondlicht hell beschienene Hand sanft die Wand entlang gleitend, auf deren Öffnung zu. Von dort konnte er einen Blick in das Innere … des frühmittelalterlichen Bades werfen, dessen fehlende Kuppel den Blick frei gibt in den Himmel. Er erreichte das Gitter aus Schmiedeeisen. Trat davor und warf, leicht gebückt, einen Blick hinein in den Raum. Er hielt den Atem an. Auf den steinernen Sitzbänken, die das Hammam umlaufen, saßen zwei Mädchen, in absoluter Gleichheit, einander zugewandt im Gespräch. Das helle Mondlicht zeichnete wie mit einem Stift genau ihre Konturen, die Linien ihrer Gesichter. Sie flüsterten, unvernehmbar waren die Laute. Ihre Bewegungen waren von der Grazie und Geschmeidigkeit des leichten Sommerwindes … Ihre bodenlangen Gewänder und ihre Kopfbedeckungen leuchteten im Widerschein des sanften, fast taghellen Mondlichtes. Schimmerten in rot und schwarz.

Busra, Heißbadebereich (juwawani) des Hammam Manjak.
Heißbadebereich (juwwani) des Hammam Manjak, Busra 1991 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Foto: Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)
Busra, Hammam Manjak, Kaltbadebereich (barrani)
Kaltbadebereich (barrani) des Hammam Manjak in Busra 1986 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Foto: Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA) 

Fata Morgana? Sarab zur mitternächtlichen Stunde? Schwarz war die eine gekleidet, ganz in Purpurrot die andere. Sie saßen dort, raunend, wispernd, immer wieder innehaltend im Wort, ihre ebenmäßigen, absolut gleichen Gesichter einander zugeneigt, fast berührten sie sich. Sie saßen so in tiefem Ernst. Daniel erschrak, in freudigem Erstaunen, zog sich sogleich von der schmiedeeisernen Öffnung zurück. Er fühlte sich ertappt, als Eindringling, wie zum vulgären Mitwisser eines Geheimnisses gemacht, schämte er sich seiner Indiskretion. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und verharrte. Er dachte nach. War das Hammam denn nicht immer verschlossen? Auch tagsüber, um der lärmenden, übermütigen Kinderschar aus Busra zu wehren? Unversperrt war es zum beliebten Versteck für sie geworden, ja sogar zum Kampfplatz im Streit rivalisierender Banden. Und hatte man das Hammam nicht erst vor Verfall und Zerstörung gerettet? So war seit langem schon der Schlüssel nur noch beim Wächter zu erhalten, ein Öffnen des Bades nur in seiner Gegenwart möglich. …


* Dieser Text wurde stark gekürzt und entstammt dem Buch „Archäologie der Seele“ von Gabriele Hamzé-Conrad, das 2018 im Autumnus-Verlag, Berlin erschien.

** Michael Meinecke (1941-1995) leitete die Grabungs- und Restaurierungskampagnen des frühislamischen Bades Hammam Manjak durch die Antikenverwaltung in Busra und das Deutsche Archäologische Institut Damaskus zwischen 1981 und 1993. Diese Arbeit resultierte in der denkmalgerechten Instandsetzung der Ruinen des Hammams, dessen Originalbau im Jahr 1372/773 fertig gestellt worden war. 


Featured image: Die Altstadt von Busra, eine Welterbestätte der UNESCO © Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Foto: Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)


Autorenschaft von Gabriele Conrad-Hamzé: Gabriele Conrad-Hamzé war am Deutschen Archäologischen Institut Damaskus tätig und lebte jahrelang in Sichtweite der Ruinen von Busra. Mit ihrem syrischen Mann und lokalen Unterstützer:innen baute sie erst ein Zentrum für Umweltbildung, dann die Flüchtlingskinderbetreuung „Auf, lasst uns spielen, lasst uns lernen“ mit Schwerpunkt auf Alphabetisierung in Suwayda auf.

ِAutorenschaft von Syrian Heritage Archive Project

Gemeinschaftsprojekt zur Digitalisierung von Beständen des syrischen Kulturerbes aus Deutschland (Museum für Islamische Kunst in Berlin und Deutsches Archäologisches Institut) in der Zeit von 2013-2019

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1 Comment

  1. Habe Frau Hamze, eine großartige Frau und Gastgeberin mit diesem Buch wieder gefunden. Die Freude ist groß!
    Margarete Grabner

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