von Jean-Claude David

Das Ghazala-Haus – Projekt: Vom großen städtischen Anwesen  zum Museum der Erinnerung an Aleppo (Mathaf Zakirat Halab)

Im Jahre 2009, zwei Jahre vor Beginn des Krieges in Syrien, begannen Nachfahren der Familie Ghazala die Erinnerung an das Haus ihrer Vorfahren in Aleppo zu sammeln und das Wissen darüber vertiefen. Unsere Publikation “Alep: La maison Ghazalé – Histoire et devenirs” (Editions Parenthèses, 2019) ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Ziel war es dabei nicht nur, die historische Pracht dieser Architektur den Leserinnen und Lesern nahezubringen und eine Vorstellung von der Lebensqualität in ihm zu vermitteln, sondern auch eine wichtige Dokumentation zu erstellen. Die zahlreichen schriftlichen, gezeichneten und fotografischen Zeugnisse in unserem Buch stellen auch eine wichtige Grundlage für jede Restaurierung dar, die nach der fast vollständigen Zerstörung des Hauses durch den Krieg vorgenommen werden sollte. Als besonders kunstvolles Beispiel für ein großes Haus, das von jeder aleppinischen Familie – unabhängig von ihrer Konfession – hätte bewohnt sein können, war als Museum für aleppinische und syrische Geschichte und Identität ideal geeignet.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 1: Der große Innenhof während der Restaurierungsarbeiten 2009-2011 | François Cristofoli (CC BY-SA 4.0)

Wie es bis 2011 bestand, war das größtenteils im 17. und 18. Jahrhundert erbaute Haus Ghazala von christlichen Familien bewohnt (Fig. 1, 4). Machte diese konfessionelle Verankerung das Haus zu einem besonderen Kulturerbe? Beschreibungen und Analysen mehrerer von Christen erbauter und bewohnter Häuser belegen, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen einem „christlichen“ und einem „muslimischen Haus“ aus derselben Zeit gab. Kultur – ob materiell oder immateriell – setzt sich aus unterschiedlichsten Elementen zusammen, darunter auch aus der Pluralität der Religionen. Die Häuser verkörpern nur ganz wenige spezielle Merkmale des Islam, des christlichen Glaubens oder der armenischen, katholischen, orthodoxen oder jüdischen Identität.

Ganz im Gegenteil: arabische Schrift und Literatur als gemeinsame Sprache und vorislamisches Erbe sind überall anzutreffen. Nicht-muslimische Elemente sind also keinesfalls fremd, sondern bilden den Nährboden für die kulturelle und historische Entwicklung eines gemeinsamen Erbes.

Wurde das Haus Ghazala während des Krieges angegriffen?

Im Jahre 2010 war das Ghazala-Haus ein historisches Denkmal und einstiger Ort regen Alltagslebens, jedoch seit über einem Jahrhundert unbewohnt. Der Bruch, der durch veränderte Lebensweisen seit Ende des 19. Jahrhunderts und durch die Übernahme von „Modernität“ hervorgerufen wurde, ging mit einer Ablehnung der Vergangenheit einher. In den 2000er Jahren wurde das Haus von der syrischen Generaldirektion für Altertümer und Museen übernommen, um dort ein Museum der Erinnerung an Aleppo einzurichten. Die Arbeiten begannen mit der Restaurierung des Gebäudes und es folgten Vorbereitungen für die auszustellenden Sammlungen.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 2: Blick zur Nordfassade des großen Innenhofes; dieser Teil des Hauses wurde am Ende des 17.Jahrhunderts erbaut, 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)

Doch schon im Herbst 2012, kurz nach Kriegsbeginn in Aleppo, geriet das Vorhaben eines Museums in Gefahr: die Frontlinie führte ganz dicht am Haus vorbei. Die erst kurz vorher restaurierten Holzvertäfelungen wurden abmontiert und weggebracht – vermutlich von organisierten und geschützten Plünderern. Drei Jahre lang, in denen sich die Frontlinie wenig bewegte, konnte das Haus einer Zerstörung entgehen. Doch 2015 verlagerte sich die Frontlinie und die Kämpfe um Rückeroberung der von Rebellen besetzten Gebiete intensivierten sich. Durch unterirdische Sprengungen, Mörserbeschuss, Luftangriffe und Bodenkämpfe wurde das an Denkmälern und touristischen Einrichtungen reiche Viertel Judayda stark in Mitleidenschaft gezogen. Einige Zerstörungen scheinen sich gezielt gegen touristische Investitionen, den öffentlichen Raum und alte muslimische Waqfs[1], das Museum für Volkstraditionen (Haus Ajiqbash), das künftige Museum der Erinnerung an Aleppo, Moscheen und einige Kirchen gerichtet zu haben. Verkehrsflächen, die einen klaren strategischen Wert haben, wurden bombardiert – gut sichtbare Orte waren bevorzugte Ziele.

Im Haus Ghazala ist der Iwan (zum Hof offener Raum) fast vollständig zerstört, ebenso ein Teil der Qaʿa (Empfangsraum) und des Hammams. Satellitenbilder belegen, dass die meisten Schäden in Haus und Nachbarschaft vor August 2015 entstanden sind (Fig. 3). Im Jahr 2017 waren nur noch ein Teil des Anwesens und der geschnitzte Dekor von West-, Nord- und Ostfassade erhalten. 

The courtyard, view towards the east, after the destruction
Fig. 3: Der große Hof (Blickrichtung nach Süden) nach den Zerstörungen durch die Schlacht um Aleppo – mit dem Iwan, der in Trümmern liegt, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, Foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)

Eine widersprüchliche Haltung zum Kulturerbe: teils beansprucht, teils ignoriert oder abgelehnt, vor allem aber geplündert und durch den Krieg zerstört

Bereits vor dem Krieg waren die Spuren der überlieferten urbanen Lebensweise, die in der Stadt diffus verteilt und mit neuen Praktiken in neuen Architekturen verwoben waren, schwer lesbar geworden; der Krieg hat diese Schwierigkeit noch verstärkt. Durch ihn wurden der Verlust von kulturellem Erbe und die Zerstörung von traditionellem Umfeld nur umso deutlicher. Denkmäler verschwanden, Häuser wurden geplündert, verbrannt, gesprengt oder bombardiert – ebenso wie die Suqs und Tausende anderer historischer Gebäude. Dies führte zum Verlust der historischen Kultur, die bereits zuvor durch den Tourismus verändert worden war oder auch als rückwärtsgewandt gegolten hatte.

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 4: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im östlichen Nebenraum des Iwans („qubba“) aus dem 17. Jahrhundert; die Oberflächen sind gesäubert und restauriert, vor 2011  | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
Bayt Ghazala, ʿajami wall panels decorating the red hall (qaʿa)
Fig. 5: Bemalte Holzvertäfelung (ʿajami) im Roten Salon (neben dem Eingangsraum), 2008 | Lamia Jasser (CC-BY-NC-ND)
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 6: Eine eher touristische Infrastruktur mit Restaurants/Hotels in traditionellen Häusern ebenso wie Läden, hatte sich vor dem Krieg gerade auch in Judayda entwickelt, 2017 | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)

Der Krieg hat einige Menschen dazu gebracht, ihre Sicht auf die Vergangenheit radikal zu verändern. Vor dem Konflikt stand bei Entscheidungen über die Ausweisung von Denkmälern oder Stadtgebieten die touristische Aufwertung und die westliche Perspektive im Vordergrund.  Danach wurde dieser Blick von außen in Frage gestellt und stattdessen nach Werten gesucht, die als authentischer wahrgenommen wurden und in der arabischen und muslimischen Kultur verwurzelt waren. Die Beziehung zum Erbe wurde auch zweideutiger: sie bewegte sich zwischen dem Anspruch auf Identität und dem Wunsch, Investitionen zu tätigen, indem das Erbe an Bauträger verkauft wird. Einige unter den Rebellen sahen diese Form der Inwertsetzung von kulturellem Erbe kritisch. Die Zerstörung des Erbes könnte Ausdruck einer Ablehnung des Westens und des Wunsches sein, eine Form des Eurozentrismus zu liquidieren, die über die touristische Inwertsetzung lief. (Fig. 6).

Das Museum der Erinnerung von Aleppo war ein notwendiges Projekt, um die Aleppiner dazu zu bewegen, die Vergangenheit ihrer Stadt anzuerkennen – jenseits der propagandistischen Schulklischees oder der Predigten der Moscheen. Die Zerstörung dieses Museums, das sich erst im Aufbau befand, hat zweifellos eine starke ideologische und politische Bedeutung: Es ist eine Art Ablehnung der Geschichte und ihrer Hinterlassenschaften, auch wenn die Zerstörungen als Zufälle des Krieges erscheinen mögen. (Fig. 7, 8).

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 7: Luftfoto von Judayda mit dem Haus Ghazala (dargestellt in braun), 1954 | KLM/Archives of the City Council of Aleppo
Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 8: Satellitenfoto der zerstörten Teile des Judayda-Viertels, 2017 | UNITAR

Das Judayda-Viertel und das Haus, das einst der Familie Ghazala gehörte – Beispiel des Wohlstands im ersten osmanischen Jahrhundert in Aleppo

Schlacht um Aleppo 2012-16: Die Zerstörung des Ghazala-Hauses (Beit Ghazaleh) ( Teil 1)
Fig. 9: Blick über Judayda: ein gemischt christlich-muslimisches Viertel mit Hofhäusern, Kirchen (links: der Turm der armenisch-orthodoxen 40 Märtyrerkirche), Moscheen und Waqfs

Nach der osmanischen Eroberung im Jahre 1516, d.h. vier Jahrhunderte vor den im 20. Jahrhundert vom Westen eingeführten „Modernisierungsmaßnahmen“, erlebte die Stadt eine zügig voranschreitende Neugestaltung, die bereits gegen Ende der Mamlukenzeit begonnen worden war. (Fig. 9). Die meisten traditionellen Produktionsaktivitäten wurden von den zentralen Suqs in die aufstrebenden Vororte verlagert, darunter insbesondere nach Judayda mit seiner gemischt muslimisch-christlichen Umgebung im Norden. Die Behörden förderten die Einwanderung von Christen, die in hohem Maße an den wirtschaftlichen Aktivitäten  der Stadt beteiligt waren und sich bevorzugt in den Vierteln niederließen, in denen sich bereits ihre Kirchen befanden. Eine wichtige Entwicklungsmaßnahme war die Einrichtung eines ersten großen muslimischen Waqf im Jahr 1583  in Judayda – der des Gouverneurs Bahram Pasha. Dazu gehörte der größte Hammam der Stadt, eine Qaysariyya und ein Suq. Der zweite, noch größere Waqf, den Ibshir Pascha 1653 errichten ließ, bildet mit mehreren Suqs für Handel und lokale Dienstleistungen sowie Qaysariyyas für Textilhandwerker das Zentrum von Judayda. (Fig. 7, 8). Das Haus Ghazala wurde am Rande des Kirchenviertels und in der Nähe dieser Waqfs errichtet, mit denen es ungefähr zeitgleich ist. Ihre Büros hatten die meisten Kaufleute und Bankiers christlicher Konfession, die in Judayda und den angrenzenden Vierteln lebten, jedoch üblicherweise in den zentralen Karawansereien (Khanen), die an sich schon eine Stadt bildeten – so stammt der große Khan al-Jumruk bereits aus dem 16. Jahrhundert. Sie arbeiteten mit europäischen Händlern und Konsuln oder für muslimische Honoratioren, Großgrundbesitzer und Steuerpächter, die Abgaben auf dem Land und aus anderen Produktionsbereichen einzogen. Diese Kaufleute traten auch als Kreditgeber für Getreidebauern und Viehzüchter auf. 


[1] Ein Waqf (Plural dt.: Waqfs, arab. awqaf) ist eine Stiftung durch eine Privatperson zu einem gemeinnützigen, frommen oder wohltätigen Zweck. Ein Gebäude kann bereits vorhanden oder eigens errichtet worden sein.


Featured image: The courtyard with iwan and T-shaped hall (qa’a) after the destruction, 2017 | Sammlung: May Ghazalé Sikias, foto: André Yacoubian (CC-BY-NC-SA)


[Übersetzung des französischen Textes:]

Jean-Claude David. „La guerre d’Alep 2012-2016. Destruction de la maison Ghazalé (1/2),” ArchéOrient – Le Blog, 9. März 2018 https://archeorient.hypotheses.org/8296 

(siehe auch Teil 2: Jean-Claude David. La guerre d’Alep 2012-2016)


Autorenschaft von Jean-Claude David: Jean-Claude David, pensionierter CNRS-Forscher, ist Geograph und Spezialist für nahöstliche Städte [UMR 5133 – Archéorient, Maison de l’Orient et de la Méditerranée, Lyon].

Weitere Beiträge zur Technik der ʿajami-Dekoration und dem Haus Ghazala siehe:


‘Ajami oder Damaszener Malerei: Auf den Spuren eines traditionellen Handwerks in Syrien

‘Ajami von A to Z

Restaurierung von ‘Ajami – Herausforderungen und faszinierende Entdeckungen

Die Großmeister des ‘Ajami-Handwerks

Der Weg zum ‘Ajami-Künstler: Im Gespräch mit Mohammad Haj Qab

Zwischen Tradition und Innovation: Im Gespräch mit Aliya Alnuaimi

Die Geheimnisse der Alten Meister

Die Seele des ‘Ajami: Interview mit Ziad Baydoun

Das Aleppozimmer …ganz persönlich

ʿAjami in Aleppo: Eine Geschichte über reisende Motive

Beit Ghazaleh: Das Haus meiner Urgroßeltern

ِAutorenschaft von Hiba Bizreh

Archäologin aus Syrien. Arbeitete am Syrian Heritage Archive Project in der Zeit von 2018-2019

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