von Eva Nmeir

Beim Blick auf die ummauerte Altstadt von Aleppo fallen besonders die zahlreichen Minarette ins Auge – Moscheetürme, deren Umrisse sich vor dem Hügel der gewaltigen Zitadelle abzeichnen. Und auch dort oben ragt an einer der höchsten Stellen ein solcher Turm in den Himmel: das 21 Meter hohe quadratische Minarett der Großen Moschee (Oberer Maqam Ibrahim), die der mächtige ayyubidische Herrscher von Aleppo az-Zahir Ghazi im 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr. erneuern ließ (Abb. 3). Seien sie quadratisch, vieleckig oder rund: Die Minarette in der Altstadt von Aleppo künden von Religionsausübung und Baupolitik in einer einzigartigen, historisch gewachsenen Stadtlandschaft und nicht zuletzt von der vielfältigen Architekturlandschaft Syriens.

The minaret of the Great Umayyad Mosque in the centre of the Old City of Aleppo – view to the west, behind it the three modern minarets of the President's Mosque can be seen
Abb. 1: Das Minarett der Großen Umayyaden-Moschee im Zentrum der Altstadt von Aleppo – Blick von Osten, dahinter sind die drei modernen Minarette der Präsidenten-Moschee zu erkennen (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
Die Trümmer des eingestürzten Minaretts der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo
Abb. 2: Die Trümmer des eingestürzten Minaretts der Großen Umayyaden-Moschee von Aleppo (2018) | Nabil Kasbo (CC-BY-NC-ND)

Insbesondere die hohen, aus dem ortsüblichen hellgrauen Kalkstein erbauten und teils aufwendig mit Steinmetzarbeiten verzierten Minarette prägen die Stadtansicht und setzen räumliche Betonungen. Gerade diese Minarette erlitten während des Krieges in Aleppo zwischen 2012 und 2016 oftmals erhebliche Schäden; der denkmalgerechte Wiederaufbau wird zum Teil noch lange andauern. Am bedeutendsten ist das quadratische Minarett der Großen Umayyaden-Moschee, der Hauptmoschee im Kern der ummauerten Altstadt, welches 2013 während Kampfhandlungen einstürzte (Abb. 1, 2). Mit über 900 Jahren gehörte es zu den ältesten Minaretten und stellte neben der Zitadelle das Wahrzeichen von Aleppo dar. Abgesehen von Krieg und Bränden waren im Laufe der Stadtgeschichte auch immer wieder Erdbeben dafür verantwortlich, dass Minarette beschädigt wurden und instandgesetzt beziehungsweise erneuert werden mussten.

The minaret of the Citadel's Great Mosque (Upper Maqam Ibrahim). The square shape is typical for early minarets
Abb. 3: Das Minarett der Großen Moschee (Oberer Maqam Ibrahim) auf der Zitadelle. Die quadratische Form ist typisch für frühe Minarette (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND
The minaret of the Jamiʿ Sharaf with street scene. The octagonal shape is typical for Mamluk mosques
Abb. 4: Das Minarett der Jamiʿ Sharaf mit Straßenszene. Die achteckige Form ist typisch für die Mamlukenzeit (2011) | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)
The minaret of the Jamiʿ al-Bahramiyya overlooking the enclosed courtyard. The round pencil shape is typical for Ottoman mosques
Abb. 5: Das Minarett der Jamiʿ al-Bahramiyya über dem umbauten Moscheehof. Die runde Bleistiftform ist typisch für Minarette von Moscheen im osmanischen Stil (2009) | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)

Die außerordentliche stilistische Vielfalt der historischen Minarette trägt entscheidend zu dem unvergleichlichen Charakter der Altstadt von Aleppo bei (Abb. 3–5). Vom ausgehenden 5. Jahrhundert AH / 11. Jahrhundert n. Chr., als während der Herrschaft der Seldschuken-Sultane das Minarett der Umayyaden-Moschee entstand, über die Zeit der Zengiden und Ayyubiden bis hin zur Mamluken- und Osmanenzeit wirken unterschiedliche Bautraditionen und Dekoreinflüsse. Im westlichen Syrien haben die älteren Minarette üblicherweise einen quadratischen Querschnitt; wahrscheinlich entstanden die ersten nach dem Vorbild bestehender Kirchtürme.

The unique minaret of Aleppo’s Great Umayyad Mosque before its collapse
Abb. 6: Das einzigartige Minarett von Aleppos Großer Umayyaden-Moschee vor dem Einsturz (2006) | Stefan Knost (CC-BY-NC-ND)
Minarette der Altstadt von Aleppo
Abb. 7: Das Minarett der Großen Umayyaden-Moschee im Wiederaufbau, als Baumaterial werden Trümmersteine eingesetzt (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)

Das 45 Meter hohe, über einem quadratischen Grundriss von 4,95 Meter Seitenlänge errichtete Minarett an der nordwestlichen Hofecke der Großen Umayyaden-Moschee stammte aus den 480er Jahren AH / 1090er Jahren n. Chr. (Abb. 6, 7). Dieses Minarett, das seinerzeit wohl einen Vorgängerbau ersetzte, sollte jahrhundertelang das Höchste von ganz Aleppo bleiben. Trotz einer umfassenden Restaurierung vor einigen Jahren befand es sich vor seinem Einsturz in einer leichten Schieflage. Eine Wendeltreppe mit 140 Stufen führte zu dem balkonartigen Umgang für den Muezzin, den Gebetsrufer, hinauf. Darauf erhob sich ein kleiner kuppelüberwölbter Minarettaufsatz. Der in vier Zonen gegliederte Minarettschaft erfuhr besonders in den beiden Zonen unterhalb des Umgangs eine Betonung durch umlaufend vorgeblendete Profilbänder, die Bogenöffnungen andeuteten (Blendarkaden). Im Baudekor wurden damit örtliche Gepflogenheiten aufgegriffen, die auf die vorislamische Spätantike zurückgehen. Arabische Inschriften nannten unter anderem den Bauherrn Ibn al-Khashshab, den obersten Richter (qadi) der Stadt und Mitglied einer einflussreichen ortsansässigen Familie.

Historical photograph of the Mamluk Jamiʿ Altunbugha. The octagonal minaret clearly towers above the predominantly traditional buildings in the ancient city quarter of al-Aʿjam
Abb. 8: Historische Aufnahme der mamlukischen Jamiʿ Altunbugha. Das achteckige Minarett überragt deutlich die vorwiegend traditionelle Bebauung im Altstadtviertel al-Aʿjam (1978) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Michael Meinecke (CC-BY-NC-SA)
The octagonal Ayyubid brick minaret of the Great Mosque of Balis (Maskana) east of Aleppo at the Euphrates Valley
Abb. 9: Das achteckige ayyubidische Ziegel-Minarett der Großen Moschee von Balis (Maskana) östlich von Aleppo am Euphrat-Tal (1999) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

In mamlukischer Zeit entstanden mehrere zusätzliche Freitagsmoscheen mit beeindruckenden Minaretten. Das kriegsbeschädigte Minarett der Jamiʿ Altunbugha südöstlich der Zitadelle (gegründet 718 AH / 1318–19 n. Chr. von dem namensgebenden Gouverneur, Abb. 8) gliedert sich durch Muqarnas- (Wabenwerk) Friese in drei Zonen, ein überdachter Umgang bildet den oberen Abschluss. Kennzeichnend ist nun nicht länger ein quadratischer sondern ein achteckiger Schaftquerschnitt, wobei die quadratische Basis erhalten bleibt. Das achteckige ayyubidische Ziegel-Minarett von Balis-Maskana (frühes 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr., Abb. 9), gelegen am Rand des Euphrat-Gebiets – der syrischen Jazira (dem nordwestlichen Zweistromland) – auf halber Strecke zwischen Aleppo und ar-Raqqa im Osten, ist ein wichtiger Vorläuferbau für die neue Entwicklung in Aleppo. Diese steht vermutlich in maßgeblichem Zusammenhang mit der architektonischen Formentwicklung im ägyptischen Kairo, der mamlukischen Reichshauptstadt.

Die mamlukische Jamiʿ al-Utrush – Blick von Westen auf die Hauptfassade und das kriegsbeschädigte achteckige Minarett mit zwei Balkonen
Abb. 10: Die mamlukische Jamiʿ al-Utrush – Blick von Westen auf die Hauptfassade und das kriegsbeschädigte achteckige Minarett mit zwei Balkonen (2017) | Mayada (CC-BY-NC-ND)
The Jamiʿ al-Utrush with its newly rebuilt minaret
Abb. 11: Die Jamiʿ al-Utrush mit ihrem kürzlich wiederaufgebauten Minarett (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)

Die bedeutende, ebenfalls von einem mamlukischen Gouverneur von Aleppo gestiftete Jamiʿ al-Utrush (gegründet 801 AH / 1399 n. Chr.) am südlichen Fuß der Zitadelle besitzt ein Minarett mit zwei Umgängen, was innerhalb der Altstadt eine Ausnahme darstellt (Abb. 10, 11). Bei diesem während des letzten Jahrhunderts stark ausgebesserten und ebenfalls durch den Krieg beschädigten Minarett stehen zwei Schaftabschnitte unterschiedlichen Durchmessers übereinander. Hier klingen die Möglichkeiten der vielgliedrigen mamlukischen Minarett-Architektur von Kairo an.

The octagonal minaret of the Mamluk Jamiʿ as-Saffahiyya with rich architectural decoration
Abb. 12: Das achteckige Minarett der mamlukischen Jamiʿ as-Saffahiyya mit reichem Baudekor (2006) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Stefan Weber (CC-BY-NC-SA)
Das außergewöhnliche runde, großflächig verzierte Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Mihmandar vor seiner Zerstörung durch den Krieg
Abb. 13: Das außergewöhnliche runde, großflächig verzierte Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Mihmandar vor seiner Zerstörung durch den Krieg (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Über diese beiden schmucklosen Aleppiner Minarette hinaus gibt es in jener Zeitphase um einiges aufwendiger verzierte Minarette, wobei Profilband-Blendbögen und Muqarnas-Gesimse wiederkehrende Elemente darstellen (Abb. 12). Das Minarett der Freitagsmoschee Jamiʿ al-Mihmandar (Anfang bzw. Mitte 8. Jahrhundert AH / 14. Jahrhundert n. Chr.) nördlich der Zitadelle stach dabei ganz besonders heraus (Abb. 13). Der runde Hauptschaft war vollständig mit langen Rippen besetzt, in der unteren Zone gerade und der oberen im Zickzack verlaufend. Dieses herausragende Minarett war um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund einer leichten Schieflage aufwendig ab- und wieder aufgebaut worden. Während des Krieges wurde es schwer beschädigt und brach Ende 2016 zusammen.

The round minaret of the Jamiʿ ar-Rumi, in the uppermost section with severe war damages
Abb. 14: Das runde Minarett der Jamiʿ ar-Rumi, im oberen Abschnitt mit schweren Kriegsschäden (2017) | Alaaeddin Haddad (CC-BY-NC-ND)
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Abb. 15: Das wiederhergestellte Minarett der Jamiʿ ar-Rumi (2021) | Dima Dayoub (CC-BY-NC-ND)
Große Moschee von ar-Raqqa/ar-Rafiqa, 8./12. Jh.
Abb. 16: Historische Aufnahme des runden zengidischen Ziegel-Minaretts der Großen Moschee von ar-Raqqa am Euphrat (1907) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Friedrich Sarre (CC-BY-NC-SA)

Ein zweites außergewöhnliches Minarett ist das Eckminarett der Jamiʿ ar-Rumi oder, nach dem Namen des Stifters, Jamiʿ Mankalibugha (beendet 769 AH / 1367 n. Chr.) südlich der Zitadelle (Abb. 14, 15). Der hohe, schlanke, sich nach oben hin leicht verjüngende runde Schaft ist vierzonig unterteilt; er wurde im oberen Bereich stark kriegsbeschädigt. Der seinerzeit für Aleppo ungewöhnliche runde Querschnitt erinnert an Bauten weiter östlich in Nordsyrien, am Euphrat in der Jazira-Region bzw. der Stadt ar-Raqqa (Abb. 16). Die dortigen Ziegel-Minarette verweisen wiederum auf die im Osten – im Irak und Iran – angestammte Minarettbau-Tradition. Die runde Bauform war außerdem in die seldschukisch-türkische Steinbau-Tradition von Anatolien, das im Norden angrenzt, eingebracht worden. Zugehörige Dekorelemente sind zum Beispiel Rippenmotive.

Minarette der Altstadt von Aleppo
Abb. 17: Historische Aufnahme der Jamiʿ al-ʿAdiliyya im osmanischen Stil mit großer zentraler Kuppel und hoch aufragendem rundem Minarett inmitten der dichten städtischen Bebauung, flankiert von den niedrigeren mamlukischen Minaretten der Jamiʿ as-Saffahiyya links und der Jamiʿ ar-Rumi rechts (1981) | Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)
The minarets of the Jamiʿ al-ʿAdiliyya (right) and the today completely destroyed Jamiʿ al-Khusrawiyya (centre), Aleppo's first Ottoman-style mosque, form an impressive visual axis - view from the west, on the left the octagonal minaret of the Mamluk Jamiʿ al-Utrush
Abb. 18: Die Minarette der Jamiʿ al-ʿAdiliyya (rechts) und der heute komplett zerstörten Jamiʿ al-Khusrawiyya (Mitte), bilden eine beeindruckende Sichtachse – Blick von Westen, links das achteckige Minarett der mamlukischen Jamiʿ al-Utrush (2007) | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Stefan Weber (CC-BY-NC-SA)

Am Ende der Abfolge traditioneller historischer Minarettformen stehen die rund facettierten Minarette mit spitzem Kegeldach sowie breit über einem Muqarnas-Gesims auskragendem Balkon des osmanisch-türkischen Baustils. Diese fanden Eingang in Aleppo mit dem Minarett der Madrasa-Moschee Jamiʿ al-Khusrawiyya (beendet 953 AH / 1546–47 n. Chr.) im Zentrum der großen Stiftungsanlage des osmanischen Provinzgouverneurs Khusraw Pasha (Abb. 17, 18). Von Zeitzeugen wurden die hoch aufragenden bleistiftförmigen Minarette bewusst als osmanische Bauwerke wahrgenommen und durchaus auch als Sinnbilder osmanischer Herrschaft verstanden. Das erste dieser beeindruckenden Minarette ist heute verschwunden – die Khusrawiyya-Moschee wurde 2014 vollständig in die Luft gesprengt.

The modern ar-Rahman Mosque with its square double minarets in the new city of Aleppo, on a prominent site on the north-western arterial road – view from the southeast
Abb. 19: Die moderne ar-Rahman Moschee mit ihren quadratischen Doppelminaretten in der Neustadt von Aleppo, in exponierter Lage an der nordwestlichen Ausfallstraße – Blick von Süden (2003) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
The modern at-Tawhid Mosque with its four high minarets, each encircled by four balconies, in the north of al-ʿAziziyya at the road bridge over the Quwayq – view from the south
Abb. 20: Die moderne at-Tawhid Moschee mit ihren vier hohen, jeweils von vier Balkonen umschlossenen Minaretten – Blick von Süden. In direkter Nachbarschaft befinden sich zwei große Kirchen, der Bereich nordwestlich der ummauerten Altstadt beherbergt überwiegend christliche Viertel (2010) | Jürgen Rese (CC-BY-NC-SA)

Auf den ersten Blick heben sich die historischen Minarette der ummauerten Altstadt von Aleppo gegenüber modernen, aus Beton, Stahl und Glas erbauten Minaretten, beispielsweise in der benachbarten westlichen Neustadt, deutlich ab. Doch bei näherer Betrachtung ist es in hohem Maße ein überliefertes Repertoire an architektonischen Formen und Dekormotiven, auf welches die sehr hohen und ungleich auffälligeren Minarette von Moscheen wie der Jamiʿ ar-Rahman, der größten Moschee nordwestlich der Altstadt mit insgesamt drei quadratischen Doppelminaretten, oder der nördlich gelegenen Jamiʿ at-Tawhid mit ihren vier schlanken, gemischtförmigen Eckminaretten (Abb. 19 und 20, beide aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts) Bezug nehmen.


Beitragsbild: Die Altstadt von Aleppo – Blick von Westen Richtung Zitadelle, im Vordergrund ist das Minarett der Jamiʿ Sayf ad-Dawla zu sehen (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Eva Nmeir: Kunsthistorikerin mit besonderem Bezug zu Syrien. Sie bearbeitete für das Syrian Heritage Archive Project und seine Co-Projekte unter anderem die Weltkulturerbestätten „Altstadt von Aleppo“ und „Antike Dörfer in Nordsyrien“.

ِAutorenschaft von Syrian Heritage Archive Project

Gemeinschaftsprojekt zur Digitalisierung von Beständen des syrischen Kulturerbes aus Deutschland (Museum für Islamische Kunst in Berlin und Deutsches Archäologisches Institut) in der Zeit von 2013-2019

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