von Eva Nmeir
Beim Blick auf die ummauerte Altstadt von Aleppo fallen besonders die zahlreichen Minarette ins Auge – Moscheetürme, deren Umrisse sich vor dem Hügel der gewaltigen Zitadelle abzeichnen. Und auch dort oben ragt an einer der höchsten Stellen ein solcher Turm in den Himmel: das 21 Meter hohe quadratische Minarett der Großen Moschee (Oberer Maqam Ibrahim), die der mächtige ayyubidische Herrscher von Aleppo az-Zahir Ghazi im 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr. erneuern ließ (Abb. 3). Seien sie quadratisch, vieleckig oder rund: Die Minarette in der Altstadt von Aleppo künden von Religionsausübung und Baupolitik in einer einzigartigen, historisch gewachsenen Stadtlandschaft und nicht zuletzt von der vielfältigen Architekturlandschaft Syriens.


Insbesondere die hohen, aus dem ortsüblichen hellgrauen Kalkstein erbauten und teils aufwendig mit Steinmetzarbeiten verzierten Minarette prägen die Stadtansicht und setzen räumliche Betonungen. Gerade diese Minarette erlitten während des Krieges in Aleppo zwischen 2012 und 2016 oftmals erhebliche Schäden; der denkmalgerechte Wiederaufbau wird zum Teil noch lange andauern. Am bedeutendsten ist das quadratische Minarett der Großen Umayyaden-Moschee, der Hauptmoschee im Kern der ummauerten Altstadt, welches 2013 während Kampfhandlungen einstürzte (Abb. 1, 2). Mit über 900 Jahren gehörte es zu den ältesten Minaretten und stellte neben der Zitadelle das Wahrzeichen von Aleppo dar. Abgesehen von Krieg und Bränden waren im Laufe der Stadtgeschichte auch immer wieder Erdbeben dafür verantwortlich, dass Minarette beschädigt wurden und instandgesetzt beziehungsweise erneuert werden mussten.



Die außerordentliche stilistische Vielfalt der historischen Minarette trägt entscheidend zu dem unvergleichlichen Charakter der Altstadt von Aleppo bei (Abb. 3–5). Vom ausgehenden 5. Jahrhundert AH / 11. Jahrhundert n. Chr., als während der Herrschaft der Seldschuken-Sultane das Minarett der Umayyaden-Moschee entstand, über die Zeit der Zengiden und Ayyubiden bis hin zur Mamluken- und Osmanenzeit wirken unterschiedliche Bautraditionen und Dekoreinflüsse. Im westlichen Syrien haben die älteren Minarette üblicherweise einen quadratischen Querschnitt; wahrscheinlich entstanden die ersten nach dem Vorbild bestehender Kirchtürme.


Das 45 Meter hohe, über einem quadratischen Grundriss von 4,95 Meter Seitenlänge errichtete Minarett an der nordwestlichen Hofecke der Großen Umayyaden-Moschee stammte aus den 480er Jahren AH / 1090er Jahren n. Chr. (Abb. 6, 7). Dieses Minarett, das seinerzeit wohl einen Vorgängerbau ersetzte, sollte jahrhundertelang das Höchste von ganz Aleppo bleiben. Trotz einer umfassenden Restaurierung vor einigen Jahren befand es sich vor seinem Einsturz in einer leichten Schieflage. Eine Wendeltreppe mit 140 Stufen führte zu dem balkonartigen Umgang für den Muezzin, den Gebetsrufer, hinauf. Darauf erhob sich ein kleiner kuppelüberwölbter Minarettaufsatz. Der in vier Zonen gegliederte Minarettschaft erfuhr besonders in den beiden Zonen unterhalb des Umgangs eine Betonung durch umlaufend vorgeblendete Profilbänder, die Bogenöffnungen andeuteten (Blendarkaden). Im Baudekor wurden damit örtliche Gepflogenheiten aufgegriffen, die auf die vorislamische Spätantike zurückgehen. Arabische Inschriften nannten unter anderem den Bauherrn Ibn al-Khashshab, den obersten Richter (qadi) der Stadt und Mitglied einer einflussreichen ortsansässigen Familie.


In mamlukischer Zeit entstanden mehrere zusätzliche Freitagsmoscheen mit beeindruckenden Minaretten. Das kriegsbeschädigte Minarett der Jamiʿ Altunbugha südöstlich der Zitadelle (gegründet 718 AH / 1318–19 n. Chr. von dem namensgebenden Gouverneur, Abb. 8) gliedert sich durch Muqarnas- (Wabenwerk) Friese in drei Zonen, ein überdachter Umgang bildet den oberen Abschluss. Kennzeichnend ist nun nicht länger ein quadratischer sondern ein achteckiger Schaftquerschnitt, wobei die quadratische Basis erhalten bleibt. Das achteckige ayyubidische Ziegel-Minarett von Balis-Maskana (frühes 7. Jahrhundert AH / 13. Jahrhundert n. Chr., Abb. 9), gelegen am Rand des Euphrat-Gebiets – der syrischen Jazira (dem nordwestlichen Zweistromland) – auf halber Strecke zwischen Aleppo und ar-Raqqa im Osten, ist ein wichtiger Vorläuferbau für die neue Entwicklung in Aleppo. Diese steht vermutlich in maßgeblichem Zusammenhang mit der architektonischen Formentwicklung im ägyptischen Kairo, der mamlukischen Reichshauptstadt.


Die bedeutende, ebenfalls von einem mamlukischen Gouverneur von Aleppo gestiftete Jamiʿ al-Utrush (gegründet 801 AH / 1399 n. Chr.) am südlichen Fuß der Zitadelle besitzt ein Minarett mit zwei Umgängen, was innerhalb der Altstadt eine Ausnahme darstellt (Abb. 10, 11). Bei diesem während des letzten Jahrhunderts stark ausgebesserten und ebenfalls durch den Krieg beschädigten Minarett stehen zwei Schaftabschnitte unterschiedlichen Durchmessers übereinander. Hier klingen die Möglichkeiten der vielgliedrigen mamlukischen Minarett-Architektur von Kairo an.


Über diese beiden schmucklosen Aleppiner Minarette hinaus gibt es in jener Zeitphase um einiges aufwendiger verzierte Minarette, wobei Profilband-Blendbögen und Muqarnas-Gesimse wiederkehrende Elemente darstellen (Abb. 12). Das Minarett der Freitagsmoschee Jamiʿ al-Mihmandar (Anfang bzw. Mitte 8. Jahrhundert AH / 14. Jahrhundert n. Chr.) nördlich der Zitadelle stach dabei ganz besonders heraus (Abb. 13). Der runde Hauptschaft war vollständig mit langen Rippen besetzt, in der unteren Zone gerade und der oberen im Zickzack verlaufend. Dieses herausragende Minarett war um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund einer leichten Schieflage aufwendig ab- und wieder aufgebaut worden. Während des Krieges wurde es schwer beschädigt und brach Ende 2016 zusammen.



Ein zweites außergewöhnliches Minarett ist das Eckminarett der Jamiʿ ar-Rumi oder, nach dem Namen des Stifters, Jamiʿ Mankalibugha (beendet 769 AH / 1367 n. Chr.) südlich der Zitadelle (Abb. 14, 15). Der hohe, schlanke, sich nach oben hin leicht verjüngende runde Schaft ist vierzonig unterteilt; er wurde im oberen Bereich stark kriegsbeschädigt. Der seinerzeit für Aleppo ungewöhnliche runde Querschnitt erinnert an Bauten weiter östlich in Nordsyrien, am Euphrat in der Jazira-Region bzw. der Stadt ar-Raqqa (Abb. 16). Die dortigen Ziegel-Minarette verweisen wiederum auf die im Osten – im Irak und Iran – angestammte Minarettbau-Tradition. Die runde Bauform war außerdem in die seldschukisch-türkische Steinbau-Tradition von Anatolien, das im Norden angrenzt, eingebracht worden. Zugehörige Dekorelemente sind zum Beispiel Rippenmotive.


Am Ende der Abfolge traditioneller historischer Minarettformen stehen die rund facettierten Minarette mit spitzem Kegeldach sowie breit über einem Muqarnas-Gesims auskragendem Balkon des osmanisch-türkischen Baustils. Diese fanden Eingang in Aleppo mit dem Minarett der Madrasa-Moschee Jamiʿ al-Khusrawiyya (beendet 953 AH / 1546–47 n. Chr.) im Zentrum der großen Stiftungsanlage des osmanischen Provinzgouverneurs Khusraw Pasha (Abb. 17, 18). Von Zeitzeugen wurden die hoch aufragenden bleistiftförmigen Minarette bewusst als osmanische Bauwerke wahrgenommen und durchaus auch als Sinnbilder osmanischer Herrschaft verstanden. Das erste dieser beeindruckenden Minarette ist heute verschwunden – die Khusrawiyya-Moschee wurde 2014 vollständig in die Luft gesprengt.


Auf den ersten Blick heben sich die historischen Minarette der ummauerten Altstadt von Aleppo gegenüber modernen, aus Beton, Stahl und Glas erbauten Minaretten, beispielsweise in der benachbarten westlichen Neustadt, deutlich ab. Doch bei näherer Betrachtung ist es in hohem Maße ein überliefertes Repertoire an architektonischen Formen und Dekormotiven, auf welches die sehr hohen und ungleich auffälligeren Minarette von Moscheen wie der Jamiʿ ar-Rahman, der größten Moschee nordwestlich der Altstadt mit insgesamt drei quadratischen Doppelminaretten, oder der nördlich gelegenen Jamiʿ at-Tawhid mit ihren vier schlanken, gemischtförmigen Eckminaretten (Abb. 19 und 20, beide aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts) Bezug nehmen.
Beitragsbild: Die Altstadt von Aleppo – Blick von Westen Richtung Zitadelle, im Vordergrund ist das Minarett der Jamiʿ Sayf ad-Dawla zu sehen (2001) | Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)
Autorenschaft von Eva Nmeir: Kunsthistorikerin mit besonderem Bezug zu Syrien. Sie bearbeitete für das Syrian Heritage Archive Project und seine Co-Projekte unter anderem die Weltkulturerbestätten „Altstadt von Aleppo“ und „Antike Dörfer in Nordsyrien“.