Ein Filzteppich von al-Bab

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Annegret Hafner

Meine erste Begegnung mit einem Filzteppich machte ich im August 2008 während meiner ersten Reise nach Syrien. Er fiel mir direkt beim Eintreten in eine Wohnung in Aleppo in die Augen. Es war ein dicker dichter wolliger Teppich. Noch nie zuvor hatte ich einen so dicken robusten Filz gesehen. Die 4cm Dicke war massiv aus Wolle. Aber wie, mit welchem Kraftaufwand, wird so ein Teppich hergestellt? Denn bekanntlich verfilzen sich die Wollhaare durch die Walgbewegung und dem Zufügen von warmem Wasser und Kernseife. 

Die Frage der Herstellung sollte nicht offen bleiben, denn kurze Zeit später hatte ich die Gelegenheit eine der Produktionsstätten für Filzteppiche zu besuchen. Eine Stunde Autofahrt von Aleppo in nordöstlicher Richtung und ich war in Al Bab. Übersetzt bedeutet der Ortsname „Das Tor“. Al Bab ist eine kleine Stadt mit Dorfcharakter, in der es gar nicht so einfach war, die „Teppichfabrik“ zu finden. Wir kamen in immer kleinere Straßen, bis wir schließlich vor einer Garage hielten. Davor standen zwei große Säcke gefüllt mit Rohwolle, deren Geruch nach nassem Schaf mir bereits kurz nach der Ankunft in die Nase stieg.

Eine Produktionsstätte für Filzteppiche in Al Bab
Ein robuster 4 cm dicker Filzteppich aus Wolle in der Produktionsstätte für Filzteppiche in Al-Bab

Fig. 1: Eine Produktionsstätte für Filzteppiche in Al Bab | Annegret Hafner (CC-BY-NC-ND)
Fig. 2: Ein robuster 4 cm dicker Filzteppich aus Wolle | Annegret Hafner (CC-BY-NC-ND)

Aus der Garage drangen eintönige dumpfe Geräusche, die sich als Nebenprodukt des Filzteppichwalggerätes herausstellten. Ich trat in einem schmalen, dunklen Raum, aus dessen hintersten Ecke es staubte und dröhnte. Ein altes eisernes Gerät, das wenn auch etwas breiter einer Wäschemangel ähnelte, ließ in regelmäßigen Abständen ein Brett auf eine sich drehende Rolle fallen. Ein Teppich in seiner Entstehung. So wurde also die harte Handarbeit von der Maschine abgelöst. Der Besitzer erklärte mir, dass vor knapp 10 Jahren bestimmte Prozesse automatisiert wurden. Nicht nur in Al Bab, dem Zentrum der Filzteppichproduktion, auch auf dem Land bis zur irakischen Grenze fanden die Maschinen ihren Einsatz. Zuvor wurde diese Arbeit tatsächlich von Hand, oder besser von Fuß übernommen. Zwei Männer bearbeiteten einen Teppich innerhalb von 10 Stunden, wohingegen die Maschine 24 Stunden benötigt. Doch bedenkt man den enormen Kraftaufwand, so war die Maschine eine willkommene Hilfe. 

Ein selbstgebaute Walke bei der Herstellung eines Teppichs
Ein Teppichhersteller rollt einen fertigen Filzteppich in seiner Werkstatt in Al-Bab aus

Fig. 3: Ein selbstgebaute Walke bei der Herstellung eines Teppichs | Annegret Hafner (CC-BY-NC-ND)
Fig. 4: Ein Teppichhersteller aus Al-Bab rollt einen fertigen Filzteppich aus | Annegret Hafner (CC-BY-NC-ND)

Ein älterer Herr, in zerrissener Kleidung, äußerlich von seiner schweren Arbeit geprägt, demonstrierte uns freudestrahlend, wie die Fußarbeit damals ausgesehen hat. Ein Bein auf der Teppichrolle, das andere auf dem Boden, trat er, die Hände unterstützend auf dem vorderen Bein auf der Rolle, in regelmäßigem Rhythmus schwungvoll die Rolle. Diese bewegte sich vorwärts, bis es nicht mehr weiterging, und die Richtung einfach geändert wurde.

Ein alter Mann aus Al Bab demonstriert, wie Filzteppiche traditionell in Fußarbeit hergestellt wurden.
Fig. 5: Ein älterer Herr aus Al Bab demonstriert, wie Filzteppiche traditionell in Fußarbeit hergestellt wurden | Annegret Hafner (CC-BY-NC-ND)

Erstaunlicherweise gab es zehn Jahre zuvor (1998) noch 400 Werkstätten in Al Bab, von denen zum Zeitpunkt meiner Reise in 2008 lediglich sechs überlebt hatten. Die automatische Produktion, die neue Verwendung von Polypropylen und Acryl, sowie der immense körperliche Aufwand bewirkten, dass sich das Gewerbe irgendwann gesundheitlich und zeitlich nicht mehr bezahlt machte. Viele Filzer bekommen von dem Wollstaub Lungenkrebs. Das Handwerk schien in seinen letzten Stunden zu sein. Doch hier auf dem Land hatte es noch Bestand, wenn auch mit maschineller Hilfe.

In der benachbarten Garage hatte ich Glück. Im hinteren Teil dieser Garage wurde gerade ein Teppich vorbereitet. In voller Größe lag das Design in Form einer Schablone auf dem Boden. Auf dem Boden wurde bereits mit der Verteilung der farbigen Wolle begonnen. Die Oberseite des Teppichs liegt zunächst unten. Das Design ist gespiegelt. Die sehr brillante Wolle wird Schicht für Schicht aufgebaut und schließlich von der grundfarbenen Wolle bedeckt. Für einen Quadratmeter Teppich werden sechs Kilo Wolle benötigt. Bei der Ermittlung der finalen Größe rechnet man gewöhnlich 30 % ab, die durch eine Schrumpfung des Materials verloren gehen. Diese kommt vom Umland, oder der Kunde bringt sie selbst mit in die Werkstatt. Leider wurden mir die folgenden Arbeitsschritte nicht gezeigt. Es ist zu vermuten, dass die Fläche anschließend befeuchtet und in Tuch umschlagen wird. Dann rollt man die Fläche auf und legt sie in die Maschine. Nach zwei Stunden wird die Rolle herausgehoben, entrollt, umgedreht, und wieder aufgerollt. So wird bis zum Schluss verfahren, bis die Wolle fest verfilzt und die Größe erreicht ist.

Wieder auf der Straße präsentierte man mir noch zwei weitere Teppiche, die im Gegensatz zu dem vorherigen, sehr farbintensiv waren. Ornamente in Rosa, Rot, Lila und Blau auf hellrosa Grund. Eine sehr freundliche Kombination. Ich konnte mir augenblicklich vorstellen, wie dieser Teppich als Spiel-, Schlaf- und Gehgrund wirken würde. Eine steife, wärmende Fläche, die durchaus durch ihre Andersartigkeit besticht. Es war das letzte Mal, dass mir ein solcher Teppich mir über den Weg gelaufen war.

Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Estibaliz Sienra Iracheta

Die Verzierung von Textilien hat einen direkten Bezug zu ihrem äußeren Erscheinungsbild während sie gleichzeitig eine symbolische Bedeutung inneträgt. Verzierungen repräsentieren ein breites Spektrum menschlicher Bedürfnisse und vermitteln unter anderem Familien- und Gemeinschaftszugehörigkeit, Klasse und Wirtschaftsstatus, Freizeit und Hobbies sowie Spiritualität und religiösen Glauben. Die Verzierung von Textilien wird häufig verwendet, um Bedeutungen, Botschaften und Geschmäcker zu kommunizieren, aber sie demonstrieren auch die unzähligen unterschiedlichen Fähigkeiten und die Kreativität der syrischen Textilhersteller.  

Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente

Stickerei

Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente

Aghabani

Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente

Textilfärberei

Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente

Textildruck


Estibaliz Sienra Iracheta ist Doktorandin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus im Bereich World Heritage. Als Expertin für traditionelle Textilherstellung setzt sie sich für die Förderung traditioneller Textilhandwerke ein. Estibaliz arbeitete zuvor in der Ruth D. Lechuga-Volkskunstsammlung des Franz Mayer Museums und als Lehrerin für Textilrestaurierung an der National School for Conservation, Restoration and Museography of the National Institute of Anthropology and History in Mexiko.

Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

by Rania Kataf

Jede Frau in Duma besitzt eine Aghabani-Stickmaschine. „Wir bekommen sie als Teil unserer Aussteuer, ein Brauch, den die Frauen aus Duma seit Generationen leben“, erklärt eine ältere Frau aus der Familie Jowhar. Die Familie Jowhar gilt als eine der größten Familien, die für ihren angesehenen Ruf in der Aghabani-Textilproduktion bekannt sind. Wie viele andere bekannte Familien aus der Stadt Duma wie al-Malik, al-Najjar und Sheikh Bzeneh üben sie dieses Kunsthandwerk bereits in der dritten Generation aus. Duma ist eine Großstadt nordwestlich von Damaskus, in der Region Ghuta. Der Aghabani-Stoff, der aus feinen Stickereien besteht, gehört zu den am meisten bewunderten Damaszener Textilien, die auf einzigartige Weise mit der Stadt Damaskus und den umliegenden kleineren Städten verbunden sind. Auch wenn dieses Kunsthandwerk durch die Damaszener Händler berühmt wurde, sind die wahren Schöpfer dieses Stoffes Frauen, die in Duma und anderswo hinter den Kulissen mit den feinen Stoffen arbeiten.

 „Jedes Stück Aghabani wird von einer Frau einzigartig entworfen, genau wie eine Zeichnung“

Samir Hamoudeh

Aghabani-Stoff ist eine einzigartiges handgefertigtes Muster  aus Seide, Organza oder Baumwolle, die mit weißen, goldenen und/oder silbernen Viskose-Fäden bestickt werden. Ursprünglich waren Weiß, Gold und Silber als die hauptsächlichen Farben des Aghabani-Stoffes bekannt, doch heute gibt es bereits zahlreiche neue Farbkombinationen, um der Nachfrage am Markt zu nachzukommen. „Jedes Stück Aghabani wird von einer Frau einzigartig entworfen, genau wie eine Zeichnung“, erklärt Samir Hammoudeh, Besitzer eines Aghabani-Kaufhauses in Damaskus. „Früher kaufte ich den Baumwollstoff selbst, brachte ihn zum Holzschnitt-Drucker und suchte mit ihm die Designs aus. Am nächsten Tag kam ich dann noch einmal, um diese abzuholen und an die Frauen in Duma zu schicken. Die Männer erledigten ihren Teil, aber die tatsächliche Arbeit war den Frauen überlassen“, fährt er fort. Verschiedene Muster wurden als Orientierungshilfe für die Frauen, welche die Stickerei ausführten, mit auswaschbarer blauer Farbe auf den Stoff aufgedruckt. Jedes Tischtuch enthielt mindestens drei Muster. Die Holzschnittdrucker verwendeten kleinere und größere Holzschnitte, um diese Muster auf die Oberfläche des Stoffes zu drucken.

Samir Hamoudeh, Besitzer eines Aghabani-Ladens in Damaskus, erzählt von seiner Arbeit mit den feinen Stoffen | Rania Kataf (CC-BY-NC-ND)

Viele Händler glauben, dass Aghabani auf die osmanische Zeit in Damaskus zurückgeht, eine Zeit, als bestickte Stoffe speziell für Männer von hohem Stand oder Rang im religiösen Leben individuell angefertigt wurden. Bereits damals waren Frauen die Pioniere dieses Kunsthandwerks. Noch heute lernen Frauen schon in sehr jungen Jahren alles über Stickerei von ihren Müttern oder Tanten. Schätzungen zufolge waren vor dem Krieg fast 5000 Frauen in Duma von ihrem Zuhause aus in der Aghabani-Produktion tätig. Heute hat die Zahl infolge von sieben Jahren Krieg in Syrien dramatisch abgenommen. In einem Interview mit einer der wenigen noch in diesem Kunsthandwerk tätigen Frauen erklärt Lina Sheikh Bzeneh, dass Aghabani sich auf jegliche Stickerei bezieht, die von den Frauen aus Duma angefertigt werden. Ohne den Einsatz dieser Frauen, gäbe es kein Aghabani. Laila Jowhar verbindet das weltweite Ansehen des Aghabani besonders mit dem Tischtuch und der von ihren Vorfahren verwendeten Handwerksmethode. „Wenn man Menschen nach Aghabani fragt, fällt ihnen meist nur das Tischtuch ein. Es ist heute die beliebteste Stickereiart.“

Für Lina, die dieses Kunsthandwerk seitdem sie 10 Jahre alt war ausübt, hat das Besticken von Tischtüchern den Beginn einer neuen Aghabani-Ära eingeläutet. Sie glaubt, dass der Wechsel von einfachen Stickereien auf Kleidern zu einer erleseneren Auswahl an größeren fein bestickten Geweben und Designs, dazu beigetragen hat, die Identität ihrer Stadt durch eine Aufwertung dieses Handwerks zu bewahren. Sie fragt ihre Mutter: „Mama, seit wann stelle wir Aghabani her?“ Für sie wird Zeit in der Anzahl der von den Frauen ihrer Familie durchgeführten Stiche gemessen. „Frag deine Großmutter, wie alt sie war, als Damaszener kamen und ihr erstes Tischtuch bei ihr bestellten,“ antwortet ihre Mutter.

A handgefertigtes Muster für die Frauen von Douma
Aghabani-Tischtuch mit goldenen und silbernen Fäden

Fig. 1: Ein Muster eines handbedruckten Stoffes | Rania Kataf (CC-BY-NC-ND) Fig. 2: Aghabani-Stichmuster | Rania Kataf (CC-BY-NC-ND)

Aufgrund ihres konservativen kulturellen Hintergrunds arbeiteten die Frauen von Duma von ihren Häusern aus, was es unmöglich machte, einen Ersatz für ihre Stickerei-Methode zu finden. Niemand hatte tatsächlich je gesehen, wie diese Frauen ihre Aghabani-Meisterstücke herstellten. Während des Kriegs in Syrien wurde es unmöglich, Duma zu erreichen. Viele Frauen verließen Duma ohne ihre Nadeln und Stickmaschinen. Daher war die Aghabani-Produktion jahrelang zum Erliegen gekommen, bis diese Frauen einen Weg gefunden hatten, ihre Maschinen aus ihren Häusern herauszuschmuggeln und dieses vom Aussterben bedrohte Kunsthandwerk wiederzubeleben. Die Frauen aus Duma begannen, Aghabani von ihren neuen Häusern in sichereren Nachbarorten aus herzustellen. Manche zogen sogar nach Damaskus und traten wieder in Verbindung mit jenen Händlern, für die sie vor dem Konflikt gearbeitet hatten. Als Duma 2018 von offizieller Seite her als sicher bezeichnet wurde, kehrten viele Familien aus Duma in ihre Häuser zurück und brachten das Kunsthandwerk zurück an seinen Entstehungsort. Der Damaszener Kaufhausbesitzer Samir Mahmoud ist sich sicher: „Die Frauen aus Duma haben das Kunsthandwerk gerettet. Die talentierte Handfertigkeit der Frauen aus Duma ist mit nichts zu vergleichen. Sie erschaffen Zauberhaftes.“


Rania Kataf ist eine in Damaskus lebende Künstlerin, die die Erinnerung der Stadt durch Geschichten und Fotografien dokumentiert. Mit ihrer Facebookgruppe ´Humans of Damascus´ versucht sie, Damaszener in diesen Prozess online einzubinden.

Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Rania Kataf

Eine der schönsten Szenen, die sich Geschichtenerzähler in Erinnerung an ihre geliebte Stadt Aleppo wieder ins Bewusstsein zurückrufen, ist das Bild der farbenfrohen handbedruckten Textilien, die an den Wänden der großen Zitadelle hingen. „Die Gestaltung der Stoffe schuf einen einzigartiger Regenbogen aus verschiedenen Mustern, ein Mosaik aus über 300 verschiedenen Drucken, die im Handel zwischen Ost und West hergestellt wurden”, erzählt Mr. Bsata, ein junger Kaufmann aus Aleppo. Er erinnert sich gut an die guten alten Zeiten, als er die Färber bei ihrer magischen Arbeit in der Altstadt beobachtete. Leider ist diese Szene mittlerweile verschwunden. Was bleibt sind lediglich die Erinnerungen derer, die im Handwerk gearbeitet haben; und die Erinnerungen der älteren Menschen, die die Geschichten eines einst kriegslosen Aleppo durch ihre gespaltenen trockenen Lippen erzählen – durstig nach einer Vergangenheit, die, wie sie befürchten, für immer verloren scheint.

Handbedruckte Stoffe galten jahrhundertelang als Gebrauchsgegenstand und waren in jedem Haushalt und den Souks von Aleppo, Damaskus und Hama, wo sie hergestellt wurden, sehr beliebt. Frauen aus Deir al-Zour reisten nach Aleppo, um den Habari zu kaufen, einen handbedruckten Seidenstoff, der zum Bedecken ihrer Haare vor allem bei Festen verwendet wurde. Habaris gab es in vielen Farben und Druckmustern, die größtenteils von der Natur beeinflusst waren. Frauen wickelten sich ein bis drei verschiedenfarbige Seidenstücke um die Stirn und hielten dies für ein Zeichen von Luxus und unsterblicher Schönheit.

Hama hingegen war berühmt für seine weißen Baumwollstoffe mit schwarzen Blumen- oder geometrischen Mustern, die hauptsächlich als Tischdecken oder Bettdecken verwendet wurden. Es ist interessant anzumerken, dass die Bewegung der Beduinen innerhalb und außerhalb Syriens eine wichtige Rolle bei der Verbreitung dieses Stoffes in den Irak gespielt hat. Mit der Zeit ersetzten mehr Farben die schlichte weiße Baumwolle, von Grün über Burgunderrot bis hin zu Marineblau. „Diese dunkleren Pigmente waren besser für die Reise geeignet“, erklärt Hassan Dahabi, ein Händler in der Altstadt von Damaskus. „Beduinen zogen sie wegen ihrer Qualität anderen Textilien vor und Ausländer kauften sie als Tischdecken.“ Als Signatur blieb jedoch die schwarze Farbe bestehen, die den Ursprung des Handwerks und der Männer der Stadt Hama symbolisierte. „Alles ist nur vorübergehend, aber schwarze Farbe ist dauerhaft und ein Symbol für Macht. Deshalb verwendeten Drucker in Hama meist die schwarze Tinte in ihrem Handwerk“, erklärt Herr Dahabi.

In Damaskus wurden an zwei Orten in der Altstadt handbedruckte Stoffe hergestellt: in einem Khan in Midhat Pasha, namens Khan al-Dikkeh, und im jüdischen Viertel. Der in Khan al-Dikkeh hergestellte Stoff wurde von den Männern einer Familie namens al-Tabbaa hergestellt, was übersetzt Farbendrucker bedeutet. Nur ein paar Meter entfernt beherrschten Frauen und Kinder im jüdischen Viertel das Handwerk ebenfalls und glaubten, dass ein solch filigranes Handwerk sensible und feinfühlige Hände erfordert. Eine der bekanntesten jüdischen Familien, die im Holzschnitt-Druck gearbeitet haben, waren die Sassoons. Deren Enkelin Dalida Barukh-Sassoon spricht von ihnen als „den Pionieren dieses alten Handwerks“. Die Familie besaß eine eigene Handelsroute für den Transport ihrer Stoffe von Indien über Griechenland nach Großbritannien.

Obwohl diese Handarbeiten aufgrund des Verschwinden ihrer Meister und der Einführung neuer Technologien in der Textilindustrie vom Aussterben bedroht sind, ist das einzige, was sicher bleibt, die Rolle, die syrische Städte historisch als Produktions- und Handelszentren in der Textilproduktion gespielt haben – eine Geschichte, die Handwerker und Händler seit Jahrhunderten in die Erinnerungen unserer Vorfahren eingedruckt haben, mit Farbe, die die Zeiten überdauern wird.


Rania Kataf ist eine in Damaskus lebende Künstlerin, die die Erinnerung der Stadt durch Geschichten und Fotografien dokumentiert. Mit ihrer Facebookgruppe ´Humans of Damascus´ versucht sie, Damaszener in diesen Prozess online einzubinden.

Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Estibaliz Sienra Iracheta

Die traditionelle Textilherstellung ist ein lebendiger Bestandteil der Beziehung zwischen Mensch und Natur, durch die ein tiefes Wissen über die aus der direkten Umwelt stammenden Pflanzen, Tiere und Mineralien vermittelt werden konnten. Als Artefakte, die das Überleben unter extremen Wetterbedingungen ermöglichen und uns bei der Bewältigung unseres täglichen Lebens helfen, wurde die Gewinnung von Naturfasern mit dem Wissen und den Fortschritten des Menschen in Verbindung gebracht, einschließlich der Domestizierung von Tieren und dem Anbau von Nutzpflanzen.


Seide

Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
Stränge von Seidenkettfäden in der Textilfabrik der Familie Mezannar in Damaskus – © Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)

Die Herstellung von Damasten und Brokaten ist eng mit dem historischen Erbe der Seide (harir) in Syrien verbunden. Ursprünglich in China entdeckt, wurde die Zucht von Seidenraupen und die Verarbeitung ihrer Faser jahrhundertelang als streng gehütetes Geheimnis bewahrt. Wann die Seidenraupenzucht erstmals sich auszubreiten began ist unbekannt, es wird jedoch angenommen, dass dies mit der Entstehung und Etablierung der Seidenstraße über den Fernen Osten hinaus in Verbindung gebracht werden kann.

Das antike Netz von Handelsrouten hatte drei wichtige Routen, die in syrischen Städten endeten: eine Landverbindung von Zentralasien über Persien und den Irak nach Aleppo und Antiochia; eine Seeroute, die Indien mit dem Persischen Golf verband, und dann auf dem Landweg von Bagdad oder Mosul nach Aleppo, Palmyra oder Damaskus. In den Suqs dieser Städte konnten die feinsten Seidenstoffe und Garne erworben werden, von wo sie nach Europa und in den Mittelmeerraum transportiert und verkauft werden konnten. Es ist bekannt, dass das Römische Reich orientalische Seide aus Syrien importierte und dass die Seidenhändler (sericari) ihre eigenen Quartiere in der Stadt Rom hatten. Auch das Weben einer Schussköperbindung aus Seide auf Zugwebstühlen hat seinen Ursprung in der Region und wurde später durch syrisch-römische Sklaven, die der sassanianische Kaiser Shapur I. im Jahr 360 gefangen nahm, in das Persische Reich eingeführt (Harris, S.60; Scott, S.52; Pavaloi, S.215). Schuss-Köper ist eine Webart. Sie besteht aus horizontalen Fäden (Schuss) und diagonalen Fäden (Kette) und zeichnet sich durch ein diagonales Muster aus, bei dem der Schuss über einen oder zwei Fäden der Kette und dann unter zwei oder mehr Kettfäden geführt wird, wobei die Linien für die diagonale Linie verschoben werden. Schuss-Köper ist sowohl der Name des diagonalen Musters als auch der Name für das fertige Textilgewebe. Im 4 Jahrhundert, beinhalteten die Diokletian-Erlasse (301 n. Chr.) sogar Regelungen zur Textilherstellung in Syrien, die sich auf die Seidenproduktion und die Webstuhlmengen für das Weben von reinen Damastgeweben beziehen (Pavaloi, S. 211). Eine größere Seidenproduktion entwickelte sich wahrscheinlich während der byzantinischen Epoche von nestorianischen Priestern im Jahr 553 und florierte später in den Städten Homs und Hama, als die muslimischen Armeen unter Khalid b. al-Walid die Region eroberten. Die Tribute, die die Damaszener ihren Eroberern zahlten, umfassten beispielsweise „zweitausend Seidengewänder… und dreihundert Kamelladungen Seide“ (Pavaloi, 1992, S. 212). Der Naturseidenfaden wurde zu einer der teuersten Waren in den Kalifaten und wurde wie bei seinen römischen Vorgängern zu einem wertvollen Teil der islamischen Kultur. Man begann, Seidenkleider als Geschenke und Symbole für die „Anerkennung oder den Ausdruck des Wohlwollens der Mächtigen gegenüber ihren Untergebenen“ (Lombard, 1987) zu verwenden. Die Seide stand in enger Beziehung zu materiellen und spirituellen Werten zwischen allen Schichten der sozialen Hierarchie und zwischen verschiedenen religiösen Gruppen, von den oberen Höfen der Umayyaden bis hin zu den heutigen Land- und Nomadenvölkern.

Das kleine Dorf Dayr Mama in der Region Masyaf ist bis heute für die Produktion von Naturseide bekannt. An der Ostseite des Küstengebirges gelegen, haben die optimale natürliche Umgebung und das gemäßigte Klima es ermöglicht, dass die Kunst der Seidenraupenzucht über die Jahrhunderte hinweg durch die engagierten Hände ihrer Bewohner erhalten blieb. Die Dorfbewohner haben sich dafür eingesetzt, die Seidenindustrie vor dem Aussterben zu bewahren, indem sie das Wissen an ihre Kinder und Enkel weitergegeben und ein Museum eröffnet haben, das die historische und kulturelle Bedeutung der Seide und ihrer Herstellung in der Region zeigt. 

Die Gewinnung von Seide beginnt mit der Domestizierung der Seidenraupen Bombyx mori, ein Prozess, der durch die vier Wachstumsphasen des Lebenszyklus des Insekts bestimmt wird: das Wachsen vom Ei zur Larve, von der Larve zur Puppe und schließlich zum Schmetterling. Früher züchteten syrische Bauern ihre eigenen Seidenraupeneier, heute werden sie vom Ministerium für Landwirtschaft und Agrarreform Syriens gekauft. Die Eier bleiben anscheinend während des Sommers, Herbstes und Winters inaktiv, bis im Frühjahr die Larven schlüpfen. Dies fällt genau mit der Jahreszeit zusammen, in der die Maulbeerbäume blühen. Die Seidenraupenlarven werden auf Matratzen gelegt und in Kisten im Haus gehalten. Danach werden die Larven sechs Wochen lang dreimal täglich mit Maulbeerblättern gefüttert, die nach fünfmaligem Häuten erwachsen werden und bis zu sieben oder acht Zentimeter groß werden. Am Ende ihres Erwachsenenlebens werden die Würmer durchsichtig und zeigen damit an, wann sie bereit sind, ihre Kokons zu weben. Da sie mit trockenen Strauchzweigen versehen sind, an denen sie hängen, scheiden die Würmer den Seidenfaden aus und wickeln sich ein, eine Aufgabe, die drei bis vier Tage in Anspruch nimmt. Der Kokon schützt den Wurm so lange, bis er sich in eine Puppe verwandelt hat, eine Verwandlung, die zwei bis drei Wochen dauert, woraufhin der Schmetterling den Kokon aufbricht und den Kokon verlässt. In den folgenden acht bis zwölf Tagen paaren sich die Schmetterlinge und legen zwischen 200 und 300 Eier ab, bevor sie sterben. 

Seidenbauer sammeln die Kokons und teilen sie je nach Größe und Qualität in zwei Kategorien ein. Die guten Kokons werden dann dem Wickelprozess zugeführt, bei dem der einzelne gehärtete Seidenfaden der Kokons in kochendem Wasser aufgeweicht und mit Hilfe eines Rades einzeln abgewickelt wird. Jeder Kokon wird aus einem einzelnen Faden hergestellt, das bis zu 1.500 fortlaufende Meter lang sein kann. Zwei Fäden werden dann kombiniert und mit Hilfe eines Spinnrades oder einer Spindel zu einem einzigen Seidenfaden verzwirnt und dann zu Garnspulen aufgespult, die zum Häkeln oder Weben verwendet werden können (Alkateb, 2011).


Wolle

Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
Ein Wolleladen in Aleppo – © Wolfgang Mayer (CC-BY-NC-ND)

Die Produktion und Verwendung von Wolle – die in Syrien hauptsächlich von Awassi-Schafen gewonnen wird – ist besonders unter den Beduinen und landwirtschaftlichen Bauern Syriens von Bedeutung, die seit mehr als 5.000 Jahren Herden halten und sie in die natürlichen Graslandschaften der semiariden oder ariden Regionen Südwestasiens treiben (Epstein, 1980).

Die Verarbeitung der Wolle beginnt mit dem Scheren der Schafe, das in der Regel im Sommer mit einer Schere erfolgt. Das Wollvlies wird dann zu Hause mit warmem Wasser gewaschen, um organisches Material wie Mist oder Dornen zu entfernen. Nach dem Trocknen in der Sonne oder neben einem Feuer werden die Wollbündel mit Stöcken oder einer Schleife geschlagen, um die Fasern zu lockern. Danach folgt das Kardieren, das den Spinn- oder Filzprozess erleichtert, indem die Fasern mit Hilfe eines Stachelwerkzeugs oder Kamms in eine Richtung getrennt und geordnet werden. Sobald das Kardieren beendet ist, kann die Wolle auf den Märkten verkauft oder zu Hause zu Fäden gesponnen werden, um widerstandsfähige Textilien wie Mäntel oder Wandteppiche zu weben. Die Verwendung von Kamel- und Ziegenhaar war auch bei den Beduinen sehr beliebt, da die Fasern eher weich und fein, aber extrem widerstandsfähig sind. Die Haare wurden verwendet, um Zeltstreifen, Kelims, Taschen, Bänder, Gürtel und Gurte zu weben. Kamelwolle wurde ebenfalls zu feinen Fäden gesponnen und wurde vor allem zum Weben einiger der teuersten Festumhänge oder Abayas verwendet, die von den reichsten Beduinen getragen wurden.


Baumwolle

Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
Eine Frau in einem Baumwollfeld – © Jean-Claude David (CC-BY-NC-ND)

Baumwolle ist eine pflanzliche Textilfaser, die aus den Sträuchern der Gattung Gossypium wächst. Im Arabischen als qutn bekannt, wurde die domestizierte Kulturpflanze wahrscheinlich erstmals vor mehr als 2.000 Jahren über Handelswege von Indien nach Syrien eingeführt. Bis zum späten Mittelalter hatten sich jedoch Bedeutung und Umfang der Baumwollproduktion in den alten Gebieten Syriens so weit entwickelt, dass die Region die größten Mengen an Rohbaumwolle nach Europa exportierte, was das Aufblühen der Barchent-Industrie in der Lombardei und in Süddeutschland förderte. Ende des 15. Jahrhunderts galt die Baumwolle aus Hama als die beste auf allen europäischen Märkten, wobei die Venezianer jährlich zwei Konvois in die Region schickten und auf jeder Reise zwischen 5.000 und 8.000 Säcke Rohbaumwolle und Baumwollfäden importierten (Gibb, 1954, S.556).

Der Baumwollanbau beginnt mit der Auspflanzung der Samen während der Regenzeit. Einige Monate später blüht die Pflanze, die nach dem Verwelken eine grüne Kapsel bildet, die reift und sich öffnet, um die flauschigen Baumwollfasern freizulegen, die die Samen bedecken. Das Öffnen der Knospen markiert den Beginn der Erinnerungszeit, die früher von Hand, heute aber mit Maschinen durchgeführt wird.


Estibaliz Sienra Iracheta ist Doktorandin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus im Bereich World Heritage. Als Expertin für traditionelle Textilherstellung setzt sie sich für die Förderung traditioneller Textilhandwerke ein. Estibaliz arbeitete zuvor in der Ruth D. Lechuga-Volkskunstsammlung des Franz Mayer Museums und als Lehrerin für Textilrestaurierung an der National School for Conservation, Restoration and Museography of the National Institute of Anthropology and History in Mexiko.

Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Maya Alkateb-Chami

Als ich Um Muhammad (Shahira Hdiyeh) zum ersten Mal traf, trug sie stolz einen selbstgemachten Seidenschal [masloubeh مسلوبة ] auf dem Kopf, was sie bei vielen Gelegenheiten tat. Als Mutter von drei Töchtern und drei Söhnen, von denen fünf in städtische Gebiete gezogen waren, lebte sie in dem Bergdorf Deir Mama in der Nähe von Mesyaf (Hama), wo sie sich mit ihrem Ehemann Abu Muhammad (Badie‘ Saniyeh) ein Haus mit zwei großen Zimmern teilte. Um Muhammad hatte seit ihrer Kindheit mit ihrer Familie Kokons gezüchtet. Zum Zeitpunkt unseres Treffens führte sie dies bereits seit 45 Jahren in ihrem neuen Heim fort.  Im Jahr 2009, erzielte die Familie die Hälfte ihres Einkommens durch die eigene Landwirtschaft (einschließlich des Anbaus von Kokons). Die andere Hälfte des Einkommens wurde durch die Arbeit ihrer Kinder getragen. Um Muhammad verarbeitete Seidengarn (sogenanntes „Werfen“, oder Zwirnen und Kombinieren) und häkelte Seidenkleider für zusätzliches Geld.  

Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
Die Handwerkerin Um Muhammad ist seit ihrer Kindheit in der Seidenraupenzucht tätig. Auf ihrem Kopf trägt sie einen vor Jahren selbst hergestellten Seidenschal. (© Hany Hawasly)

Um Muhammad war sehr stolz auf ihre Seidenarbeiten und weigerte sich, die Seidenraupenzucht aufzugeben, trotz des Drängens einiger ihrer Kinder, die besorgt waren, dass sie für diese ermüdende Arbeit zu alt geworden sei. Sie hatte vor Jahren ihr eigenes Seidentuch gehäkelt und erklärte mir, dass es an einigen Stellen dünner geworden sei, weil sie diese oft auf die Haut ihrer vielen Enkelkinder aufgelegt hatte, wenn diese als Babys Ausschlag bekamen. Sie glaubte, basierend auf ihrer eigenen Erfahrung, an seine heilenden Qualitäten. Sie und ihr Mann züchteten jeden Frühling Seidenraupen, wobei ihre Tochter, die in der Nähe wohnte, ihnen häufig dabei half. 

Die Aufzucht der Seidenwürmer fand bei ihnen zu Hause statt. Dafür räumten sie die beiden großen Räume ihres Hauses für etwa zwanzig Tage im Jahr aus und schliefen im Freien. Das Paar pflückte dann mühsam Maulbeerblätter von ihren eigenen Bäumen und trug sie zu Fuß zum Haus. Dann sammelten sie gemeinsam trockene Zweige und arrangierten sie zu Halterungen, auf die die Würmer später kletterten, um dort Kokons zu spinnen. 

Die Seidenraupe (Bombyx mori), die in Syrien aufgezogen wird, ist vollständig vom Menschen abhängig: Die Blätter müssen für die Würmer fein gehackt werden, wenn sie klein sind, und sie müssen in ihrer Reichweite serviert werden. In der Aufzuchtsumgebung, die auch frei von Rauch, Gerüchen und sogar störendem Lärm sein muss, sollten bestimmte Wärme- und Feuchtigkeitsbestimmungen eingehalten werden. Blätter, die Pestizide von anderen Pflanzen aufgenommen haben, oder natürliche Räuber, wie Ameisen und Mäuse, müssen von den Raupen ferngehalten werden. Grundsätzlich gilt, je mehr Sorgfalt den Würmern gewidmet wird, desto größere und schönere Kokons geben sie ab und desto höher ist ihr Wert.

Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus

Die Seidenraupe, die in Syrien aufgezogen wird, ist vollständig vom Menschen abhängig und kann alleine nicht überleben. Für etwa 20 Tage im Jahr übernehmen die Raupen das Haus ihrer Besitzer und fressen die mühsam zusammengesuchten Maulbeerblätter. (© Hany Hawasly)

Eine Seidenraupe braucht etwa 35 Tage vom Schlüpfen aus ihrem Ei bis zum Einhüllen in den Kokon. Während dieser Zeit durchläuft sie fünf verschiedene Altersstufen (jede dauert etwa eine Woche) und vermehrt ihr Gewicht um etwa das 10.000-fache. Im Dorf Deir Mama beziehen die ersten vier Altersgruppen ihre lokalen Namen jeweils aus den physischen Eigenschaften der Seidenraupen während ihres Wachstumsprozesses: Die erste Altersgruppe wird “der Samen” [al-bizreh البزرة] genannt, die zweite die grüne [al-khadra الخضرة], die dritte “das Muster” [al-naqsheh النقشة], gefolgt von der vierten Gruppe, welche den Namen “die Rote” [al-hamra الحمرا ] trägt. Das fünfte Alter hat keinen spezifischen Namen, sondern wird mit Phrasen wie „nach dem Schlaf von al-hamra [ba’ed nomet al-hamra بعد نومة الحمرا ]“, „wir haben ihr [der Seidenwürmer] Fasten für x (Anzahl der Tage) gebrochen [ilna mfattrin إلنا مف ّ طرين (س) يوم ]“ und ähnliche Sätze beschrieben. 

Jedes Alter endet mit einer Fastenzeit und dem Abwerfen einer Wurmhaut. Als ich Um und Abu Muhammad kennenlernte, bezogen sie die Eier [Samen/ bizir بزر ] immer über das syrische Ministerium für Landwirtschaft und verkauften ihren Kokonertrag normalerweise an einen Nachbarn, dessen Familie die Seide von Hand aufwickelte. Im Jahr 2009 züchteten sie in den beiden großen Räumen ihres Hauses einen Karton Samen, der 12 Gramm wiegt und 22.000 Eier enthielt. Wenn die Raupen ausgewachsen waren, legten sie sie auf Matratzen auf den Boden, auf Möbel und Styroporkisten und auf Teller, die aus gemischtem Kuhdung, Stroh und Wasser hergestellt und dann in der Sonne getrocknet wurden [kreinat كرينات].

Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus

Eine Seidenraupe braucht etwa 35 Tage vom Schlüpfen aus ihrem Ei bis zum Einhüllen in den Kokon, wo sich die Raupe dann zu einem Seidenspinner entwickelt. (© Hany Hawasly)

Um Muhammad behandelte die zarten Würmern als wären sie ihre Haustiere. Sie achtete darauf, dass sie genug Futter haben, achtete auf ausreichend Wärme oder öffnete für die kleinen Kreaturen je nach Bedarf die Fenster. In ihrem letzten Lebensalter verbraucht ein Karton Raupen täglich etwa vier große Beutel Maulbeerblätter, verteilt auf drei Mahlzeiten. Das entspricht dem Ertrag von ein bis vier gesunden älteren weißen Maulbeerbäumen der einheimischen Sorte [Morus alba, tut baladi, توت بلدي ].

Wenn die großen Seidenraupen anfingen, durchsichtig zu werden, beeilten sich Um Muhammad und ihr Mann, die natürlichen Haltevorrichtungen zu bringen, die sie zuvor aus trockenen Zweigen von Sträuchern zusammengebaut hatten [shieh شيح ], um die Würmer unterzubringen. Sie waren nun bereit, ihre Kokons zu spinnen. Nach einer Woche wurde der Ertrag gesammelt und verkauft, bevor die Metamorphose endete und die Motten sich ihren Weg nach draußen fraßen und als Erwachsene aus ihrer Unterkunft herauskamen. Im darauffolgenden Monat August, bestellte die Familie dann eine bestimmte Anzahl von Seidenraupen für die Aufzucht im nächsten Frühjahr.

Von Maya Alkateb-Chami, basierend auf ihrer Publikation Syrian Silk: Portrait of a Living Cultural Heritage.

[Deutsche Übersetzung von Elisabeth Korinth]


Interview mit Maya Alkateb-Chami über das Seidenhandwerk in Syrien:

Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

Interview mit Maya Alkateb-Chami

„Kulturelles Erbe muss geschützt werden, in einer Zeit, in der die Welt immer kleiner wird, die weitreichende Kraft des Konsums kulturelle Verhaltensweisen verändert und der Tourismus zu einem wichtigen und für viele Gemeinschaften lebenswichtigen Wirtschaftszweig wird. Materielle Kultur, die sich durch Kunst und Kunsthandwerk ausdrückt, ist ein wichtiges Gut, das hilft, zu definieren, wer wir sind. Sie dient als Werkzeug, um menschliche Gemeinsamkeiten hervorzuheben und um Verständnis, Respekt und Wertschätzung zwischen Menschen, die unterschiedlichen Kulturen und Generationen angehören zu fördern.

Maya Alkateb-Chami in Syrian Silk: Portrait of a Living Cultural Heritage (2010)
Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Maya Alkateb-Chami bei ihrem Interview mit Ismail al-Hajj und seinem Sohn, umringt von Weinranken in dem Bergdorf Beit al-Hajj, in der Nähe von Tartous. Al-Hajj hat eine führende Rolle in der Wiederbelebung der Seidenproduktion in Syrien. (© Hany Hawasly)

In den Jahren 2008 – 2010 erforschte Maya Alkateb-Chami das Seidenhandwerk in Syrien, wobei sie sich eingehend mit den Traditionen des Kokonanbaus, des Spulens und Webens befasste. Sie untersuchte zudem, wie die traditionelle Industrie wiederbelebt werden könnte. Ihre Arbeit mündete in eine einzigartige Publikation, die einen Teil des syrischen Lebens beleuchtet, der oft übersehen wird.

Zum 10. Jahrestag der Veröffentlichung von Syrian Silk: Portrait of a Living Cultural Heritage‘ interviewte Kuratorin Elisabeth Korinth die Autorin Alkateb-Chami.

Was war Ihre Motivation, sich mit der Dokumentation der Seidenindustrie in Syrien zu beschäftigen? 

Im Jahr 2009 leitete ich die gemeinnützige Organisation Al Makan Art Association und interessierte mich dafür, ein Projekt zum Schutz und zur Förderung des traditionellen Kunsthandwerks in Syrien zu starten. Ein Freund stellte mich einer Familie in den westlichen Bergen Syriens vor, die seit mindestens vier Generationen wunderschöne Seidenschals herstellte. Mohammad Sa’oud, das Oberhaupt der Familie, der hauptberuflich als Arabischlehrer tätig war, und seine Frau Amal waren sehr gastfreundlich und verfügten über sehr viel Wissen. Den allgemeinen Grundlagen der Projektplanung folgend, begann ich mit einer Problemanalyse, die auch meine ursprüngliche Intention war – wenn ich die Probleme wüsste, könnte ich bessere Lösungsvorschläge entwickeln. Es stellte sich jedoch heraus, dass das syrische Seidenhandwerk komplizierter war, als ich anfangs gedacht hatte, und ziemlich faszinierend. Was 2009 mit einer kurzen Projektplanung begann, führte zu neun Monaten umfassender Forschung und einem intensiven Lernprozess.

Was war Ihre interessanteste Erkenntnis im Laufe des Projektes?

Die lange Geschichte der Seidenherstellung in Syrien war faszinierend, vor allem ihre Verflechtung mit der Politik in der Antike und der Neuzeit. Das hatte ich allerdings erwartet. Die Erkenntnis, die mir die Augen öffnete und die ich später benutzte, um meine Forschungen zu formulieren und zu organisieren, war, dass es nicht ein einziges „syrisches Seidenhandwerk“ gab. Was es gab, war eine Vielzahl von Handwerksarten und Traditionen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig waren. Man brauchte die Kokons, um Garn herzustellen. Man brauchte Garn, um Stoffe zu weben oder zu häkeln. Die Weberinnen und Weber verkauften die Stoffe direkt oder schickten sie zum Färben. Manchmal wurde der Faden zuerst gefärbt, aber er musste immer für das Weben vorbereitet werden. Diese Prozesse waren getrennt, und jeder Prozess hatte seine eigene Gemeinschaft von Handwerksfrauen und -männern, wobei sich einige Gruppen überschnitten. Was wirklich existierte, war eine ganze Versorgungskette.

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Seidenproduktionskette in Syrien in 2009 (Maya Alkateb-Chami – CC BY-ND)

Sie haben Ihre Forschung noch vor dem Ausbruch des Krieges in Syrien abgeschlossen. Wie war die Situation des Seidenhandwerks damals und welche Prozesse waren damit verbunden?

Im Jahr 2009 gab es 16 syrische Dörfer, die Seidenraupen züchteten. Sie produzierten zwei Tonnen Kokons, im Vergleich zu 360 Tonnen, die 1970 im Land produziert wurden. Die ganze Familie war mit der intensiven Saisonarbeit beschäftigt. Die Seidenraupen sind sehr empfindlich und reagieren negativ auf Pestizide, Zigarettenrauch, Parfüm und Krankheiten. Wenn sie sehr klein sind, hacken die Frauen für sie Maulbeerblätter fein. Wenn sie ihre volle Größe erreicht haben, schlafen die Familien draußen und überlassen den Raupen die bequemere Unterkunft. Als ich die Dutzenden von Familien befragte, war die einheimische Seidenraupe, die größere gelbliche Kokons produzierte, bereits ausgestorben. Kein Seidenhaspler hatte sie in den vorherigen sieben Jahren gesehen. Seidenraupeneier wurden nun zu Beginn jeder Saison vom Landwirtschaftsministerium importiert und verteilt.

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens

Im Jahr 2009 züchteten die meisten syrischen Bauern, die Kokons produzierten, Seidenraupen in ihren Privathäusern. Es dauert nur etwa 40 Tage, bis sie Ertrag bringen, aber die empfindlichen Würmer benötigen viel Pflege und umfangreiche Arbeit, vor allem gegen Ende der Aufzuchtzeit. (© Hany Hawasly)

Seidenhaspeln oder حل [hal] ist das Wort für den Prozess des Aufwickelns von Kokons zu Fäden, die 500-1500 Meter lang sind. Im Vergleich dazu sind es bei der höchsten Baumwollqualität etwa sechs Zentimeter, und dies ist der Grund für den Wert von Seide. Die 2009 in Syrien produzierten Kokons wurden in zwei Dörfern aufgewickelt. Die Handwerker und Handwerkerinnen arbeiteten sehr hart daran, die Kokons aufzuwickeln, bevor die reifen Seidenmotten sie zerreißen und anfangen zu fliegen. Sie zogen es vor, die Kokons nicht zu trocknen. Eine Reihe zusätzlicher Schritte werden von den Frauen durchgeführt, um den Faden für die Stoffherstellung vorzubereiten.

Schließlich wird der traditionell gespulte Faden in Grubenwebstühlen gewebt, die auf Bodenhöhe mit Gruben im Boden für die Beine gebaut sind. Die arbeitsintensiven Webarbeiten werden von Männern ausgeführt. Frauen häkeln ganze Kleidungsstücke oder die Ränder von Tüchern mit komplizierten Mustern. Nur einige der Stoffe werden gefärbt, die meisten werden in ihrer natürlichen Farbe verkauft. Das Besondere ist das Fortbestehen der Seidenherstellung in Syrien trotz vieler Rückschläge. Es war klar, dass die beteiligten Familien diese Arbeit unbedingt fortsetzen wollten.

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens

Das Seidenhaspeln ist ein Prozess, bei dem Filamente aus verschiedenen Kokons abgewickelt und dann zu einer kontinuierlichen Faser verbunden werden. (© Hany Hawasly

Wie steht es mit den berühmten syrischen Brokaten?

Parallel zu den von mir beschriebenen dörflichen Aktivitäten schufen Handwerker in größeren Städten wie Damaskus unter Verwendung jahrhundertealter Muster exquisite Brokatstoffe mit Metall- und importierten Seidenfäden. Die Färber in Aleppo machten aus einfachen Seidenstoffquadraten symmetrische, abstrakte Ausdrucksformen aus weißen, roten und schwarzen Farbstoffen. Weber in Homs und Hama schufen traditionelle gestreifte Textilien. Handwerkerinnen stellten Knüpf- und Farbkleider her, deren Herstellung Tage dauerte. Geschickte Händler verkauften Stoffe und handelten mit ihren ebenso versierten Kunden Preise aus. All diese Aktivitäten sind Teil des Gesamtbildes der Seidenproduktion in Syrien. Meine Nachforschungen folgten jedoch weitgehend den Kokons, die in den Jahren 2008-2010 in dem Landkreis hergestellt wurden, den Textilien, die daraus hergestellt wurden, und den Gemeinschaften, die an dieser Umwandlung beteiligt waren. 

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens

Masloubeh [مسلوبة], ein traditioneller Seidenschal, der entweder durch Zusammenhäkeln zweier schmaler, handgewebter Stoffstücke an den austretenden Rändern, oder durch vollständiges Häkeln hergestellt wird. Die gewebten Teile werden mit einem traditionellen Grubenwebstuhl hergestellt. (© Hany Hawasly)

Sie erwähnen in Ihrer Publikation, dass Sie die Geschichte der Seidenherstellung in Syrien faszinierend fanden, insbesondere ihre Verflechtung mit der Politik. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Wir wissen, dass Seide in Syrien erstmals im 1. Jahrhundert n. Chr. in Palmyra gewebt wurde. Der Faden selbst wurde wahrscheinlich importiert, aber beim Weben wurde die lokale Technik verwendet. Mitte des 19. Jahrhunderts machten Seidengarn und Kokons 30 % des Wertes der Verschiffungen aus den Häfen [Groß]Syriens und 70 % im Falle Beiruts aus und unterstützten vor allem die blühende Textilindustrie in Frankreich. Es gibt die Theorie, dass Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Syrien und den Libanon vor allem für das Mandat, weil sie das Land mit wichtigen Rohstoffen für die Seidenherstellung belieferten. Der darauffolgende dramatische Rückgang der Produktion kann auf eine Reihe von lokalen und globalen Kräften zurückzuführen: die Öffnung des Suezkanals und der erleichterte Zugang zu Seide aus Zentral- und Südostasien; die sinkende Nachfrage nach Luxusprodukten aufgrund der Weltfinanzkrise vor dem Zweiten Weltkrieg, gefolgt vom Krieg und seinen Nachwirkungen; die Einführung von Kunstseide und Krankheiten, die Seidenraupen über mehrere Jahreszeiten hinweg in der Levante befallen haben. Die geringere Auslandsnachfrage bedeutete jedoch eine Chance für den Wachstum der lokalen Garn- und Textilproduktion. 1964 gab es in Syrien sechs private halbautomatische Fabriken zur Herstellung von Seidengarn, zusätzlich zu dem bereits erwähnten traditionellen Seidenhaspeln. 

Was geschah danach? Wie sank die Produktion auf zwei Tonnen im Jahr 2009?

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
Syrische Kokonproduktion in 1979-2008 nach Gouvernement (Maya Alkateb-Chami – CC BY-ND)

1963 errichtete die syrische Regierung eine Fabrik zur Herstellung von Garn, die den Markt monopolisierte und 1980 alle anderen Fabriken effektiv still legte. Im Laufe der Jahre gaben viele Kokonbauern aus Frustration über Korruption, Bürokratie und niedrige Entlohnung ihre Arbeit auf. Die günstige Position der Fabrik, im Zentrum der Lieferkette des Handwerks, bedeutete, dass die Qualität des Betriebs und der Produkte auch für die Textilproduzenten wichtig war. Zu unterschiedlichen Zeiten wurde der Import von Seidengarn von außerhalb des Landes illegal gemacht. Diejenigen mit wirtschaftlichen Ressourcen und Verbindungen schafften es, auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Die Arbeit wurde für viele unnötig erschwert. Eine Reihe von Regierungsinterventionen spielten eine bedeutende Rolle bei der Schrumpfung der syrischen Seidenproduktion in der modernen Geschichte. Die Geschichte ist natürlich nicht linear, und es gab noch andere Faktoren wie die Schwierigkeit und der hohen Risikofaktor der Kokonproduktion, Veränderungen in den Kulturlandschaften und sogar eine Verschiebung der Dorfarchitektur hin zu mehr Beton. Ich gehe in dem Buch auf weitere Einzelheiten ein. 

Wie würden Sie einer Regierung raten, einzugreifen, um ein traditionelles Handwerk zu schützen?

Eine Intervention, die immuner gegen Misserfolge zu sein scheint, besteht darin, sich auf die steigende Nachfrage nach Endprodukten zu konzentrieren. Abgesehen davon würde ich jeder Entität, sei sie nun staatlich oder nichtstaatlich, raten, mit einer Problemanalyse zu beginnen, bevor sie sich in die Entwicklung von Lösungen stürzt. Ich würde raten, das Kunsthandwerk insbesondere aus der Perspektive der Lieferkette zu betrachten.

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Silk producer Hourieh Hasan (left) and researcher Maya Alkateb-Chami share a candid moment while wearing traditionally reeled and crocheted silk shawls on their heads. (© Hany Hawasly)

Was war für Sie die eindrücklichste Erinnerung, als Sie Familien trafen, die mit der Seidenproduktion verbunden sind? 

Oh, es gab so viele positive Erinnerungen. Die Menschen waren so warm und einladend und wollten ihre persönlichen Geschichten erzählen. Seidenraupen können nur bei kühlem Wetter und dort, wo weiße Maulbeerbäume zur Verfügung stehen, gezüchtet werden. Die Berglandschaften der vielen Dörfer, die in der Seidenproduktion tätig sind, und die Häuser der Menschen sind in meiner Erinnerung tief verwurzelt. Ich bin sehr dankbar für alle Leuten, die mich damals in ihr Leben gelassen haben und dass ich mehr über die Geschichte meines Landes und dessen Leute erfahren habe. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich jeder junge Mensch auf die eine oder andere Weise für die Erforschung seines kulturellen Erbes engagieren sollte.

Lesen Sie die gesamte Publikation “Syrian Silk: Portrait of a Living Cultural Heritage” von Maya Alkateb-Chami hier. Weitere Informationen über Alkateb-Chamis Arbeit zum traditionellem Seidenhandwerk und den entsprechenden Lieferketten finden Sie hier.

[Deutsche Übersetzung von Elisabeth Korinth]


Weiteren Artikel von Maya Alkateb-Chami über die Seidenraupenzucht in Syrien lesen:

Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens

Was bleibt von der Seidenstraße?

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Rania Kataf

Über Hunderte von Jahren durchquerten Reisende der Seidenstraße syrische Handelsstädte. Eine der Geschichten, die sie von ihren Reisen mit nach Hause brachten, handelte von breitschultrigen Männer, die Farbstoff herstellten und auf den Dächern ihrer Häuser oder Khans Seide und andere Stoffe färbten. Das Färben von Seide, heute ein aussterbendes Handwerk, war eine der bekanntesten Fertigkeiten der Handwerker von Damaskus; das primäre Stück, aus dem die Textilhandwerker der Stadt den weltweit bekannten Damaszener-Brokat herstellten. Aber ist dies alles nun Geschichte? Die erste Frage, die mir durch den Kopf ging, als ich Mohamad Rihawi, den letzten Seidenfärber in Damaskus, traf, war: „Was würde mit dem einst so berühmten Seidenhandwerk geschehen, wenn Sie aus irgendeinem Grund aufhören, Seide zu färben?” Mit gedämpfter Stimme antwortete Rihawi nach einigem Zögern: „Ich habe versucht, meinem Sohn das Geheimnis dieses Handwerks beizubringen, aber wenn Sie Seide mit bloßen Händen färben möchten, müssen Sie die Seide und den Farbstoff fühlen und verstehen können. Das kann nicht gelehrt werden. Sie können niemandem beibringen, wie man das Material, mit dem man arbeitet, liebt und eine Leidenschaft dafür empfindet. Ich bin wie verliebt in das was ich tue. Diese Arbeit erfordert viel Geduld und Kraft. Sie ist in jedes Stück meines Gehirns und meiner Seele eingraviert”.

Mohamad Rihawi, der letzten Seidenfärber in Damaskus, erzählt von seiner Arbeit | Rania Kataf (CC-BY-NC-ND)

Laut Rihawi lieferte Draykish, eine Stadt zwischen der heiligen Stadt Tartous und der Stadt Homs, die beste Seidenqualität, mit der jeder Färber arbeiten wollen würde. Wie Rihawi es beschreibt, hat sie einen besonderen Schimmer, mehr als jede andere Seide, mit der er zuvor gearbeitet hat, sogar die aus China. Bis 2009 war in Draykish verarbeitete Seide der Hauptrohstoff für die Herstellung des berühmten Damaszener Brokats, der traditionellen hand- oder maschinengewebten Seide mit Gold- oder Silberfäden. Heutzutage, mit der Schließung der Seidenfabrik in Draykish, wird diese einzigartige Faser durch chinesische Seide ersetzt. „Und das hat alles verändert“, sagt Herr Rihawi, „der Farbstoff hat nicht die gleiche Wechselwirkung mit der chinesischen Seide, er erkennt, dass es sich um einen Fremdkörper handelt.”

Seidenfäden werden in kochendem Wasser blau gefärbt. Dieser Prozess wird mehrere Male wiederholt bis die Seide die blaue Farbe vollständig aufgenommen hat
Nachdem die gefärbte Seite mit kalten Wasser abgewaschen wurde, wird sie zum Trocknen aufgehangen

Seidenfäden werden in kochendem Wasser blau gefärbt. Nachdem die gefärbte Seite mit kalten Wasser abgewaschen wurde, wird sie dann zum Trocknen aufgehangen | Rania Kataf (CC-BY-NC-ND)

Die Seidenstraße spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Seidenhandwerks und den damit verbundenen Färbemethoden, insbesondere für die Stadt Damaskus. Mohamad Rankous, ein Brokathersteller aus Damaskus, ist sich sicher, dass die Bewohner der Stadt aufgrund dieser Rolle von Damaskus eines der verwendeten Pigmente nach der Stadt benannt haben: al-Azraq al-Shami oder Damaszener Blau. Dieses blaue Pigment habe eine einzigartige Beziehung zur Identität der Stadt. „Für uns Damaszener ist Damaskus ein Himmel auf Erden, ein Spiegelbild des wahren Himmels hinter diesem blauen Firmament. Aus diesem Grund trägt dieses Pigment diesen Namen”, erklärt Rankous, während er schwärmerisch in den Himmel blickt.

Titelbild: Florence Ollivry (CC-BY-NC-SA)


Rania Kataf ist eine in Damaskus lebende Künstlerin, die die Erinnerung der Stadt durch Geschichten und Fotografien dokumentiert. Mit ihrer Facebookgruppe ´Humans of Damascus´ versucht sie, Damaszener in diesen Prozess online einzubinden.

Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Estibaliz Sienra Iracheta

Im Laufe der letzten Jahrhunderte wurde die Bedeutung von Textilien als Wirtschaftsgüter und Träger gesellschaftlicher Werte bewahrt; verwoben mit den Traditionen und Bräuche der Menschen sind sie zum materiellen Ausdruck ihrer selbst und ihrer kulturellen Vergangenheit. In der syrischen Wüste, wie auch in anderen abgelegenen Kulturräumen der Welt, zeigt sich die Bedeutung von Textilien in den Bräuchen und Trachten von Nomadengemeinschaften, im Arabischen auch als Bedou bezeichnet: Menschen, die in Badiyat al-Sham (der syrischen Wüste) leben.

Der Begriff Beduine bezieht sich historisch gesehen auf kleine nomadisch lebende Gruppen arabischer Viehhirten, die von den alten Stämmen der arabischen Halbinsel abstammen. In diesen Gemeinschaften wurde die Herstellung von Textilien eine grundlegende Tätigkeit, die es ihnen ermöglichte, sich an die extremen Lebens- und Wetterbedingungen der Wüste anzupassen und dort zu überleben. Im Gegensatz zur Mehrheit der Bauern und Stadtbewohner Syriens haben Beduinen einen Teil ihrer traditionellen Kleidung bewahrt, vor allem da diese Textilien praktische und lebensnotwendige Aufgaben erfüllen. 

Das traditionelle Gewand der Beduinen-Frauen und -Männer bestand ursprünglich aus einem thawb, ein knöchellanges Gewand mit langen, weiten Ärmeln aus dunklem oder aus weißem Stoff. Diese waren entweder von Hand oder mit der Maschine genäht oder wurden auf dem Markt gekauft. Abhängig von der Jahreszeit konnte das Gewand aus Baumwolle (für den täglichen Gebrauch), aus Wolle (für den Winter) oder aus Seide (für feierliche und religiöse Anlässe) bestehen. Thawbs aus Seide waren oft mit Stickereien am Ausschnitt, den Seiten und der Brust verziert. Das Gewand konnte auch mithilfe von Patchwork in unterschiedlichen Farben und Materialien verziert sein und wurde in der Regel durch einen Gürtel gehalten. 

Die Funktion der thawbs war von den Ärmeln abhängig. Diese hatten unterschiedliche Einsatzzwecke. Bei Frauen dienten die Ärmel dazu, „hinter dem Rücken so zusammengebunden zu werden, dass sie eine Tasche zum Transportieren von Einkäufen und (oder) eines kleinen Kindes bildeten“ (Zernickel, S. 158). Bei Männern dienten diese Teile der Gewänder dazu, Macht zu demonstrieren und Status und/oder Rang darzustellen. Beim Reiten trugen Männer die Ärmel offen und frei; ansonsten aufgerollt oder hinten zusammengebunden (Zernickel, p.159). Darüber hinaus ermöglichten Größe und Länge der Ärmel es, echte Beduinen von Halbnomaden zu unterscheiden. Frauen trugen ebenfalls Mäntel (saya) mit weiten Ärmeln und Schlitzen an den Seiten. Diese bestanden aus dunklem Stoff, verziert mit applizierten Ornamenten im Ausschnitt und auf der Brust. Wie bei thawbs konnten die Seiten des Mantels vor der Brust zusammengebunden werden, sodass eine Tasche zum Tragen von Dingen entstand. Männer trugen früher ähnliche saye, aber in der Regel kombinierten sie einen Umhang (abaye) zu ihren Kostümen, der als ihr wichtigstes Kleidungsstück galt. 

Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
View into the tent of a nomadic family of the Tayy-tribe – © Karin Pütt (CC-BY-NC-ND)

Auch Kopfbedeckungen waren bei der Bekleidung von Beduinen wichtig. Frauen trugen normalerweise eine margruna: Ein zu einem Dreieck gefaltetes Tuch, welches aufgerollt und um den Kopf gebunden wird, um den Schleier, oder shambar kreshe, zu halten. Schleier dienten dazu, die Zugehörigkeit zu bestimmten Stämmen zu zeigen und verheiratete von ledigen Frauen zu unterscheiden, welche diese häufige als Mittel zum „Flirten“ verwendeten (Kalter, St. 159). Männer andererseits trugen Kopftücher, welche mit unterschiedlichen Farben und Stoffen hergestellt werden konnten. Diese Tücher wurden mithilfe einer Kordel namens agal gesichert, welche aus Ziegenhaar geflochten waren. Für Beduinen waren Kopfbedeckungen ein wichtiger Bestandteil ihrer Kostüme, da diese als Schutz vor Sandstürmen oder zur Erhaltung der Körperwärme Anwendung fanden. Darüber hinaus konnten mit ihnen „unausgesprochene Botschaften – der Ausdruck von Liebe, Interesse, Geringschätzung, etc.“ transportiert werden (Zernickel, S. 160).

Im Allgemeinen gelten Textilien und Kleidung als materielle Ausdrucksformen der eigenen Persönlichkeit. Daher bestimmen und beziehen sie sich auf soziale und kulturelle Assoziationen, die ihnen von den Trägern der Kleidung zugesprochen werden. Wie auch in anderen Teilen der Welt konnten in Syrien ursprünglich Gruppen von Menschen anhand ihrer Textilien erkannt werden, was zu den unterschiedlichsten Emotionen und Reaktionen führte, von Zugehörigkeitsgefühlen bis hin zu Diskriminierung. Traditionelle Kleidungsstücke verschwinden aufgrund moderner Entwicklungen immer mehr, junge Menschen verlieren das Interesse, ältere Handwerker sterben und die westliche Mode nimmt immer mehr Raum ein. Modernisierung und Globalisierung brachten vielfältige Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen sich kleiden und ausdrücken. Das Verhältnis von Bekleidung zu ethnisch-sprachlichen und religiösen Gemeinden und ihre Bedeutung als Ausdruck sozialer Rollen zeugen aber bis heute von der kulturellen Vielfalt Syriens. 


Estibaliz Sienra Iracheta ist Doktorandin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus im Bereich World Heritage. Als Expertin für traditionelle Textilherstellung setzt sie sich für die Förderung traditioneller Textilhandwerke ein. Estibaliz arbeitete zuvor in der Ruth D. Lechuga-Volkskunstsammlung des Franz Mayer Museums und als Lehrerin für Textilrestaurierung an der National School for Conservation, Restoration and Museography of the National Institute of Anthropology and History in Mexiko.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
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  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Jabbar Abdullah

ʿAjami– und Obaidi-Teppiche gehören zu den alten Volkstraditionen von ar-Raqqa, die seit der Gründung der Stadt bis in die neunziger Jahre eng mit dem Lebensstil auf dem Land und dessen land- und viehwirtschaftlichen Aktivitäten verbunden waren.

Maryam Al-Ibrahim wurde im Jahr 1956 in Kasra Sheikh Juma, einem Dorf unweit der Stadt ar-Raqqa, geboren. Das Dorf erhielt seinen Namen durch den Wasserlauf des Euphrats, der dort eine Biegung (Kasra) macht, und Faisal Sheikh Juma, einem früheren angesehener berühmten Bewohner des Dorfes. Es ist üblich, Dörfer entweder nach einem bestimmten Ereignis oder nach einer bekannten Persönlichkeit, meist einem Einwohner der Ortschaft, zu benennen. Maryam´s Vorfahren und Verwandte lebten seit mehr als einem Jahrhundert in diesem Dorf. Kasra liegt etwa 10 Kilometer vom Zentrum der Stadt Ar-Raqqa entfernt und wird von der Schnellstraße Ar-Raqqa-Aleppo in zwei Teile geteilt: Den nördlichen Teil mit Ackerland bis zum Euphratufer im Norden, und den südlichen Teil, wo die Häuser dicht an die hohen Kalksteinhügel und daran anliegende Bergwerke anschließen; umgeben von der weiten Steppe, die der Stadt Ar-Raqqa und ihrer Umgebung wichtige Weideflächen bieten.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 1: ar-Raqqa und Umgebung – © Mohamad Al Roumi
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 2: Nord- und Südseite des Dorfes Kasra, geteilt durch die Raqqa-Aleppo-Schnellstraße in der Mitte – © Mohsin Al-Ibrahim

Bis in die Achtziger war das Dorf eine kleine Ortschaft mit wenigen Dutzend Einwohnern, die von der Landwirtschaft und der Schafzucht lebten und ihr Brot aus der Weizen- und Gerstenernte backten, die sie Jahr für Jahr auf ihrem eigenen Ackerland am Euphratufer anbauten. Ihr Vieh konnten sie mit Milch, Joghurt, Käse und Butterschmalz versorgen. Aus der Wolle ihrer Schafe fertigten sie die prächtigsten ʿAjami– und Obaidi-Teppiche an, die damals und bis heute über die Stadt hinaus bekannt sind. „Ich war damals zehn Jahre alt als ich anfing, das Teppichweben zu lernen“, erzählt Maryam Ibrahim. „Meine Mutter, Adla Duhan, brachte es mir zuhause bei. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Wir hatten etwa 500 Schafe, die wir im Frühling auf das umliegende Weideland trieben, wo eine an Gras, Blüten und Dornen reiche Weide vorhanden war. Dort bauten wir gewöhnlich ein Zelt aus Ziegenhaaren auf und blieben bei den Schafen bis zum Ende des Frühlings. Diese Reise fand jedes Jahr statt.

Im Mai kehrten wir dann nach Hause zurück, schoren die Schafe, verkauften die Wolle, die wir selbst nicht brauchten, und behielten je nach Bedarf eine bestimmte Menge an Wolle, die wir jährlich für das Weben der Hausteppiche benötigten„, führt Maryam fort. „All das war eine feierliche Zeremonie, an der alle Dorfbewohner teilzunehmen pflegten.

Meine Mutter Adla wob jedes Jahr mindestens zwei Teppiche, manchmal auch drei oder vier – falls es zuhause einen wichtigen Anlass gab, etwa wenn ein Sohn oder eine Tochter heiratete, und ihr Bedarf an Teppichen für das neue Haus zu decken war.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 3: Schafe mit ihren neugeborenen Lämmern vor ihrem Stall in ar-Raqqa im Frühling – © Mohsin Al-Ibrahim
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 4: Eine Frau am Ufer des Eurphrats – © Mohamad Al Roumi

Die Vorbereitungen begannen gewöhnlich zum Sommeranfang. Zuerst befreiten wir die geschorene Wolle, das Vlies, mit der Hand von jeglichen Dornen, Blättern, Zweigen oder verkrusteten Schafexkrementen, die beim Weiden auf der weiten Steppe an den Tieren haften geblieben waren. Wenn die Wolle gut gereinigt war, taten wir sie in große Jutesäcke. In etwa kam die Wolle von fünf Schafen in einen Sack. Anschließend wurde die Wolle dann auf Esel geladen und wir brachten sie mit den anderen Frauen des Dorfes ans Euphratufer zum Waschen mit fließendem Wasser.

Dort angekommen, wählten wir einen Ort am Fluss mit einem Ufer voller Kiesel und starker Strömung, den wir Al-Mouh nennen. Die Stromschnellen spülten schnell das schmutzige Wasser mit den Säuren, Fetten und der rötlichen Erde aus der Wolle stromabwärts weg. Wir ließen die Wolle im Wasser liegen und traten dann mit den Füßen, abwechselnd mit den anderen Frauen, für etwa zwei Stunden auf das Vlies.

Danach wuschen wir die Wolle in sauberem Wasser bis es strahlend weiß war. Wir brachten es es zum trockenen Kieselufer und klopften und wrungen es mit Händen und Füßen aus, um das voll Wasser gesogene Vlies zu trocknen. Damit die Wolle leichter wird, wird sie anschließend mehrere Stunden an der Sonne zum Trocknen gelegt.

Kurz vor Sonnenuntergang packten wir die Wolle wieder in die selben Jutesäcke und kehrten nach Hause zurück, wo wir die Wolle herausholten und auf die Wäscheleinen hängten – je nach Außentemperatur zwei oder drei Tage – bis das Vlies 80 % seiner Nässe verloren hatte. Wenn die Wolle den erwünschten Trockenheitsgrad erreichte, wurde sie an einem trockenen Ort aufeinandergehäuft. Diese Haufen dienten dann dazu, dass bis zu 20 % der Feuchtigkeit erhalten blieb. Dieses Verfahren und der Feuchtigkeitsanteil sind von großer Bedeutung bei der weiteren Verarbeitung der Wolle zu größeren Leinenkarden, von denen einige rau und andere glatt sind. Das Verfahren erfolgte mithilfe einiger besonderer Werkzeuge wie dem Douk und dem Mubram.

Die Verarbeitung mithilfe des Douk und des Mubram wird von bestimmten gesellschaftlichen Zeremonien begleitet. Zu diesem Zweck versammelten sich die Frauen für etwa vier Stunden täglich bei uns zuhause, um meiner Mutter Adla zu helfen. Jede Frau brachte ihren eigenen Douk und Mubram mit.“

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 5: Eine Frau, die einen Teppich mit einem Gewichtwebstuhl webt – © Mohamad Al Roumi

‎Der Douk ist ein langer, dünner, schraubenförmiger Holzstab von weniger als 50 cm Länge, an dessen Ende zwei Holzstücke in Form von Schraube und Mutter von 10 cm Länge und 3 cm Breite befestigt sind. In der ersten Phase machen die Frauen aus dem Vlies mithilfe des Douk dicke, raue Fäden, die zu großen Rollen aufgefädelt werden.

In der zweiten Phase machen die Frauen aus jedem Douk-Faden fünf oder sechs Fäden mithilfe des Mubram, um am Ende dünne, feine, starke geflochtene Fäden zu haben.  Der Mubram ähnelt dem Douk, nur dass das am Ende des Stabs befestigte Stück aus einem einzigen zylindrischen Teil von 5 cm Länge besteht.

Für einen einzigen, 4 Meter langen und 1,2 Meter breiten Teppich benötigt man zwölf große Vliese von jeweils 2,5 kg.

Nach der letzten Phase mit dem Mubram brachte meine Mutter Adla Duhan mit einem meiner Brüder die Wollrollen mit einer dreirädrigen Autorikscha zu einem damals bekannten Teppichknüpfer in der Quwatli-Straße in ar-Raqqa, der die Fäden dann gemäß der vom Kunden erwünschten Teppichart färbt und knüpft“, erzählt Maryam. „Dieses Transportmoped wurde in der Stadt Aleppo von der Firma Najjar gebaut und gehörte damals zu den wichtigen Transportmitteln. Das motorisierte Dreirad hat einen Fahrer- und einen kleineren Beifahrersitz sowie eine große Ladefläche mit Seitenwänden über der Hinterachse.

Der Teppichknüpfer konnte lediglich zwei Teppicharten, für die ar-Raqqa bekannt war, anfertigen: der berühmteste und teuerste ist der ʿAjami-Teppich, der aus mehreren Würfeln und verschiedenen geometrischen Figuren bestand, die mit sieben oder mehr Farben gefärbt wurden. Die zweite Teppichart ist der Obaidi-Teppich; benannt nach einem berühmten irakischen Stamm dessen Angehörige sich auch in der syrischen Stadt Al-Hasaka niedergelassen haben. Er ist nicht so teuer wie der ʿAjami-Teppich und hat lediglich drei Farben: schwarz, weiß und rot, die abwechselnd in langen Linien von oben nach unten gereiht sind.

Die ʿAjami-Teppiche gehören zu den kostbarsten Teppichen und sind eng verbunden mit bedeutenden Familienereignissen. Da diese Teppiche sehr teuer sind (ein Stück kostete im Jahr 1964 75 syrische Pfund, also damals umgerechnet 34 US-Dollar), pflegten die Mittelschichtsfamilien sie nur bei Festen und besonderen familiären Anlässen wie beispielsweise Hochzeiten oder Trauerfeiern auszulegen, um sie zu schonen und ihren Wert für den Besitzer zu erhalten.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 6: Geometrische Muster auf einem traditionellen ‘Ajami-Teppich aus ar-Raqqa – © Khawla Abdullah
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 7: Geometrische Muster auf einem traditionellen ‘Ajami-Teppich aus ar-Raqqa – © Khawla Abdullah

ʿAjami-Teppiche sind außerdem ein luxuriöses Mitgift für Bräute, denn sie verleihen – insofern die Familie sie sich für ihre Tochter leisten kann – der ganzen Aussteuer einen großen Wert und  sind eine Quelle des Stolzes für Braut vor dem Ehemann und dessen Familie. Die Aussteuer (in der Mundart von ar-Raqqa zihab genannt) umfasst alle persönlichen Gegenstände und Zuwendungen, die einer Tochter bei ihrer Hochzeit zur Einrichtung des Haushaltes geschenkt werden.

Diese Teppiche werden seit den Siebzigerjahren nicht mehr in ar-Raqqa hergestellt, da die weniger teuren und aufwendig maschinell geknüpften Teppiche so weit verbreitet sind. Maryam Ibrahim erklärt: „Im Jahr 1975 schenkte mir meine Mutter Adla zwei ʿAjami-Teppiche, die ich bis heute zuhause aufbewahre. Das ist die einzige materielle Erinnerung an meine Mutter. Und weil es ein besonders wertvolles Geschenk ist, habe ich stets abgelehnt, sie zu verkaufen – auch in den finanziell schwierigen Zeiten. Ich habe sie auch niemals benutzt – weder bei mir zuhause noch bei irgendeinem familiären Anlass – damit sie weder beschädigt noch abgenutzt werden.“

Diese Teppiche – zusammen mit anderen Gegenständen, die dem einfachen Leben zugunsten der Maschinen und Technologien weichen mussten – sind Kunstgegenstände und Antiquitäten. Wer diese Teppiche zuhause hat, bewahrt sie voller Stolz.

Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Estibaliz Sienra Iracheta

Die historische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung traditioneller Textilien in Syrien stellt ein materielles und immaterielles Erbe von unschätzbarem Wert dar, das Menschen ein Gefühl von Identität und Kontinuität über die Zeit hinweg vermittelt. Leider hat, wie bei den meisten Textiltraditionen auf der ganzen Welt, der Verlust des antiken Wissens und der damit verbundenen Handwerkstechniken eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die zu ihrem Verschwinden führt. 

Das rasche Verschwinden traditioneller Textilien in Syrien begann mit der Wende zum 19. Jahrhundert. Als Folge des wirtschaftlichen Handelsabkommen zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Märkten wurden die Suqs mit billigen britischen Stoffen überflutet, was zu einer Verknappung der lokalen Rohstoffe und einem Anstieg der Preise für handgefertigte Produkte führte. Es wird geschätzt, dass bis 1850 die Herstellung traditioneller Textilien um die Hälfte zurückging, wobei die Verwendung traditioneller Kleidungsstücke um fast drei Viertel zurückging. Die Menschen in den Städten und Gemeinden begannen, Kleidung im europäischen Stil zu tragen. Dieser Rückgang hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Märkte und leitete einen Stillstand bei der Weitergabe von Kenntnissen über Textilien ein, die vorher von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Unabhängigkeit des Landes Modernisierung und Industrialisierung in die Region gebracht, was die Einführung von billigeren Materialien und mechanisierten Werkzeugen zur Folge hatte, die die Prozesse vereinfachten und die Arbeitszeit sowie die Produktionskosten senkten. Das führte zum unwiederbringlichen Austausch und schließlich zum Verlust vieler der mühsam entwickelten Textilhandwerke Syriens. Veränderungen in der politischen Landschaft wie auch in den klimatischen Bedingungen, die sich durch die Überweidung der Herden verschlechterten, führten außerdem zu einem dramatischen Rückgang der Zahl der aktiven Nomadengemeinschaften und ihrer traditionellen Lebensweise (Gillow, S.96). 

Untersuchungen der Forscherin Maria Zernickel (1992, S.194) deuten darauf hin, dass vor dem Ersten Weltkrieg bis zu 60 Werkstätten von Indigofärbern in Aleppo tätig waren. Bis 1992 gab es nur noch zwei oder drei von ihnen. Im Jahr 1973 arbeiteten schätzungsweise bis zu 3.500 Weberinnen und Weber in der Stadt, zwei Jahrzehnte später arbeiteten nur noch etwa 200 von ihnen mit traditionellen Webstühlen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren Werkstätten, die mit Reservetechniken färbten kaum noch zu finden, da das Familiengewerbe durch Fabriken ersetzt worden war, die bedruckte Stoffe herstellten. Die Situation verschlechterte sich zunehmend durch den fehlenden Generationswechsel, der die verbleibenden alten Färber und Weber abgelöst und das Handwerk weitergeführt hätte. Mit dem Rückgang an Geschäften begannen die Jüngeren das Interesse am Erlernen der handwerklichen Fertigkeiten zu verlieren. Laut der Textildesignerin Annegret Hafner verstarben die Brüder Ilias und Gorgi Zâhir, die für die Herstellung von Ikat in Syrien bekannt waren, vor ihrer letzten Reise nach Aleppo im Jahr 2007. Die Zâhir-Brüder hinterließen keine Spuren ihres alten Handwerks. 

War das Überleben der syrischen Textiltraditionen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts stark gefährdet, so hat die Eskalation des bewaffneten Konflikts in der Region seit März 2011 die Produktion traditioneller Textilien stark in Mitleidenschaft gezogen. Sogar die industrielle Fertigung des Landes, die zuvor die alten Handwerkszweige betroffen hatte, ist durch den Krieg verwüstet worden: Fabriken wurden zerstört, Arbeiterinnen und Arbeiter vertrieben und Restriktionen behindern den Handel (AFP, 2016). All diese Umstände führen zu der allgemeinen und niederschmetternden Annahme, dass die meisten traditionellen textilen Ausdrucksformen im Land kurz vor dem Aussterben stehen.

Letzte Aufnahme von dem Weber Mohammad Fllaha bei seiner Arbeit mit einem Schaftwebstuhl in Aleppo (© Mohamad Fllaha)

Mohamed Fllaha, einer der jüngsten Tarbitproduzenten und Weber von Aleppo, war gezwungen, mit seiner Familie aus der Stadt zu fliehen, als der Konflikt eskalierte. Er lebt derzeit in der Türkei und konnte seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr weben. Mehrere Unternehmen und NGOs haben soziale Projekte mit syrischen Flüchtlingen in Ländern wie Jordanien und Libanon ins Leben gerufen, die kleinen Gruppen von Menschen eine Ausbildung und ein Gewerbe zur wirtschaftlichen Selbstversorgung ermöglichen. Allerdings ist der Mangel an finanziellen Mitteln für die Förderung und Durchführung größerer Projekte spürbar. Darüber hinaus ist Zugang zu bestimmten Regionen Syriens, um den Zustand des Textilhandwerks zu beurteilen, damit entscheidende Schutz- und Förderstrategien entwickelt und umgesetzt werden können, immer noch erschwert und in der jetzigen Lage keine Priorität. Aber ohne entscheidende Versuche, das materielle und immaterielle Erbe Syriens zu schützen, werden Jahrhunderte des Wissens, der Schönheit und der Kultur für immer verschwinden. Syrische Textilien werden im Sand der Geschichte vergessen werden und in den blutgefärbten Stoffen des Krieges verschwinden.  


Estibaliz Sienra Iracheta ist Doktorandin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus im Bereich World Heritage. Als Expertin für traditionelle Textilherstellung setzt sie sich für die Förderung traditioneller Textilhandwerke ein. Estibaliz arbeitete zuvor in der Ruth D. Lechuga-Volkskunstsammlung des Franz Mayer Museums und als Lehrerin für Textilrestaurierung an der National School for Conservation, Restoration and Museography of the National Institute of Anthropology and History in Mexiko.

Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

  1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Bassel Abdulwahab

Seitdem ich Aleppo verlassen habe, versuche ich in jeder Ecke, an der ich vorbeigehe, eine Spur davon zu finden. Nach meinem Umzug nach Deutschland hatte ich als Textildesigner das starke Verlangen, Wege zu finden, meine Erinnerungen wachzurufen. Ich wollte sie in ein Kunstwerk verwandeln und meine so geliebten Erinnerungen darin einbetten. Aber ich war mir nicht sicher, was genau ich bewahlren wollte?

In meiner neuen Heimat Halle stieß ich auf einen Ort, den ich zufällig ausgewählt hatte. Eines Tages, als ich über den Marktplatz ging, wurde meine Aufmerksamkeit durch einen flüchtigen Blick auf eine enge, versteckte und vernachlässigte Gasse gelenkt. Etwas in meinem Inneren lud mich ein, ja drängte mich dazu, die kleine Gasse zu durchqueren. Mit langsamen Schritten, die feuchten, kühlen Luftmoleküle einatmend, bewegte ich mich vorwärts. Der Geruch von Essen aus dem kleinen Küchenfenster rechts von der Gasse und der Rauch des starken Lakritz-Shisha-Tabaks, welcher der nahegelegenen Shisha-Bar auf der linken Seite der Gasse entströmte, drang direkt durch meine Nase in mein Gedächtnis. Mein Herzschlag beschleunigte sich, glaubte ich doch daran, am Ende dieser Gasse endlich eine versteckte Straße nach Aleppo zu finden.

Der Lärm vorbeifahrender Autos brachte einige verdrängte Erinnerungen aus meiner Heimat hervor. Für ein paar Minuten wurde ich in mein geliebtes, vom Krieg zerrissenes Aleppo zurückversetzt. Die Ähnlichkeiten zwischen diesem alten steinernen Torbogen in einer einsamen Gasse mitten in Halle und der Altstadt von Aleppo sind verblüffend. Nachts, wenn man unter dem Bogen steht, sieht man den gleichen gelben Schein von den Straßenlaternen, der in Aleppo warme Schatten auf die alten Steine warf. Die enge Gasse und die verborgenen Kluften luden meine Gedanken dazu ein, dem Weg meiner Erinnerungen zu folgen. Dieser Torbogen in Halle gab mir den Hauch einer Vorstellung von dem Torbogenlabyrinth des alten Basars von Aleppo. Hier stehend konnte ich beinahe das laute Rufen des Kaufmanns hören, das Geschwätz der Nachbarn, die über Preise verhandelten. Aber mehr als alles andere, wenn ich meine Gedanken schweifen ließ, erinnerte ich mich an die Gerüche.

Gerüche sind so tief im Gedächtnis verankert. Ein Geruch kann Erinnerungen an einen Ort, einen bestimmten Moment und eine emotionale Verbindung enthalten. Wenn ich durch den alten überdachten Basar von Aleppo ging, roch ich immer die traditionellen Gerüche, und vielleicht war Aleppo-Seife der stärkste unter ihnen. Seife aus Aleppo ist weltberühmt und wird aus Olivenöl und Lorbeerblättern hergestellt. Ein anderer markanter Duft ist Zaatar (Thymian), da Aleppo auch für seine Thymian-Mischung berühmt ist, die mit einer Vielzahl von Gewürzen vermischt und auf den Märkten verkauft wird. Es ist üblich, dass Geschäfte sowohl Aleppo-Thymian als auch Aleppo-Seife als traditionelle Produkte der Stadt verkaufen.

Ich wusste sofort, dass der Geruch ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Stückes war, das ich erschaffen würde, wenn ich meine Stadt Aleppo in meinem Kopf zu neuem Leben erwecken wollte. In dem Versuch zu speichern, was ich gesehen, gefühlt und gerochen hatte, während ich durch diese einsame Gasse in Halle ging, nahm ich einen Webstuhl und begann zu weben.

Als Farben wählte ich Rot und Weiß für Halle, die Farben der Stadt. Für Aleppo wählte ich Schwarz, Gelb, Grau und Braun als Darstellung der städtischen Landschaft. Gelbe und graue Steine sind spezifisch für Aleppo und für Syrien allgemein. Sie sind in vielen architektonischen Elementen zu finden. Der Baustil heißt Ablaq und zeichnet sich durch abwechselnd helle und dunkle Steinreihen aus, wie sie im Inneren der Zitadelle in Aleppo, im Hamam Yalbugha oder in Aleppos armenischer Kirche zu sehen sind. Ich erstellte das Farbschema in Streifen mit einem graduellen Farbverlauf von einem Farbschema zu dem anderen.

Ich habe den Stoff doppelt gewebt, um versteckte Taschen zu schaffen, in denen ich Material aufbewahren kann, das kleine Mengen verschiedener Duftstoffe enthält, in der Hoffnung, dass sie meine Erinnerungen an zu Hause wachrufen könnten. Natürlich wählte ich Aleppo-Seife, frischen Thymian, Zimt und Shisha-Tabak. Die Taschen wurden gestaltet, indem die beiden Stoffe übereinander geformt wurden. Kurz bevor ich die Taschen schloss, legte ich das in Teebeutel gefüllte Duftmaterial bei. Ich hatte einen Weg gefunden, meine Erinnerungen zu bewahren.

Meine Arbeit habe ich als Erinnerung in einem Kurzfilm festgehalten. Das Video zeigt mich bei den Webarbeiten. Eingewickelt in mein Werk möchte ich damit meine Verbindung zu Aleppo zum Ausdruck bringen.

Dokumentation ‚Unforgotten‘

Videodokumentation des Textilprojektes von Bassel Abdulwahab (© Bassel Abdulwahab, Musik von Le Trio Joubran, ‚Nawwâr‘)

Der Taubenflüsterer

von Yazan al-Yaseen

Aufgewachsen bin ich in einem Vorort in der Nähe von Damaskus. Was mir aus meiner Kindheit am besten in Erinnerung geblieben ist, sind die Fußballspiele auf den Straßen mit gleichaltrigen Kindern aus der Nachbarschaft. Jede Straße hatte ihre eigene Gruppe von Fußballspielern. Diese Gruppen konkurrierten gegeneinander, was selbstverständlich zu allerlei Rivalitäten führte. Dies ist jedoch keine Geschichte über Rivalität; sie handelt nicht einmal von Fußball. Dies ist eine Geschichte über Taubenflüsterer. 

Eines Tages nach einem Fußballspiel lud uns ein Mitglied einer Clique aus der Nachbarschaft auf das Dach seines Hauses ein. Was wir dort vorfanden, übertraf unsere kühnsten Vorstellungen: Sein Bruder war ein Taubenflüsterer und hielt auf dem Dach einen Taubenschwarm.

In der Levante und in Teilen Ägyptens ist das Taubenflüstern ein Hobby. Während des langen Sommers kann man gelegentlich ein oder zwei Taubenschwärme sehen, die unter freiem Himmel im Kreis oder in anderen Mustern auf und ab sowie nach links und rechts fliegen. Jemand, der den Ort nicht kennt, könnte denken, dass es sich nur um einen wilden Taubenschwarm handelt. Gewissermaßen ist es das auch … aber das ist nicht die ganze Geschichte. Hinter diesem eigenartigen Tanz verbirgt sich gewöhnlich ein Choreograph. Man könnte ihn auch, nach der Art und Weise, wie er dies tut, als Dirigent oder Maestro bezeichnen.

Die Tauben, Altstadt von Damaskus
Ein Taubenschwarm fliegt über die Altstadt | Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)

Nachdem wir die Treppe hinaufgestiegen waren und auf dem Dach angekommen waren, fanden wir zwei große offene Käfige. Unsere ganze Fußballmannschaft hätte darin Platz finden können. Die Tauben waren buchstäblich überall. Einige liefen umher, andere ruhten sich aus oder kümmerten sich um ihre Küken, einige schliefen. Sie störten sich nicht allzu sehr an unserer Anwesenheit. Sie kamen uns als Fremde zwar nicht zu nahe, waren jedoch weder erschrocken noch verängstigt. Wir waren sozusagen erträgliche Gäste in ihrem Hause … Die Atmosphäre hatte etwas atemberaubendes an sich! Eine Weile später kam der ältere Bruder. Er war der König dieses Ortes. Nach einer kurzen Begrüßung ging er, um nach seinen Tauben zu schauen. Sanft berührte er einige, küsste ein paar und unterhielt sich mit einigen anderen. Anschließend drehte er sich zu einer Ecke auf dem Dach und hob einen langen, dünnen Stock mit einem Stück schwarzer Schärpe auf, deren Ende umwickelt war. Pap pap pap, er klopfte mit dem Stock auf den Boden, pap pap pap… pap pap pap. Die Tauben waren alle in Bewegung. Es war Spielzeit und nichts anderes war wichtiger. Wir standen und schauten ehrfürchtig zu … ganz leise.

Während die Tauben sich auf dem Boden versammelten und sich flugbereit machten, fing der Choreograph langsam an, seinem Stock zu bewegen und mit der schwarzen Schärpe einen kleinen Kreis zu formen. Plötzlich begann er laut zu pfeifen. Der erste Pfiff war laut und sehr lang, wodurch sich alle Tauben vom Boden erhoben. Sie flogen und stiegen in perfekter Synchronität mit dem Kreis, den er mit seiner Schärpe gezeichnet hatte, kreisförmig weiter nach oben. Bald nachdem sie in der Luft waren, wurde der Kreis immer größer und die Pfiffe wurden kürzer, wobei nun mehr Töne zu hören waren. Die Tauben verpassten kein einziges Mal seine Bewegung. Jedes Mal, wenn er seinen Kreis auf- oder abwärts bewegte oder seine Bewegung in irgendeiner Form unterbrach, reagierten die Tauben auf ihn.

Hin und wieder ergriff er ein Stück Holz, einen Schuh oder irgendeinen Gegenstand vom Boden und warf ihn nach oben. Später erfuhr ich, dass auf diese Weise Vögel, die zurückgeblieben waren oder sich verirrt hatten, wieder zurück zum Schwarm gelangen konnten. Eine Weile später ließ er seine Bewegung ruhiger werden und seine Pfiffe signalisierten den Vögeln, dass die Spielzeit beendet ist. Der Kreis schloss sich und der Schwarm landete auf dem Dach. Mit etwas Futter, begrüßte der Maestro zufrieden seinen Schwarm und das Spiel war beendet. Es war magisch. 

Der Taubenflüsterer

Tauben im Innenhof der Umayydaden-Moschee | Dr. Eva Haustein-Bartsch (CC-BY-NC-ND)

Später im Leben fand ich heraus, dass Taubenflüsterer in der Gesellschaft eine Unterschicht darstellen. Die Menschen mögen sie generell nicht und machen Witze über sie. Noch überraschender ist, dass ihre Aussage lange vor Gericht nicht akzeptiert wurde. Bereits in der Hadith drückte der Prophet Mohammed seine Unzufriedenheit gegenüber einem Mann namens “Abu Omair” aus, weil dieser die Gewohnheit hatte, Tauben fliegen zu lassen. Es existiert kein direktes Verbot von Taubenflüsterern im Koran, dem Rechtskodex, unter dem die islamischen Gesellschaften seit Jahrhunderten gelebt haben. Diese Menschen stehlen sich jedoch offenkundig gegenseitig die Vögel, indem sie sie in die Luft locken, damit sie sich ihrem eigenen Schwarm anschließen. Die Fähigkeit, dies zu tun, ist ein Zeichen von Kunstfertigkeit und eine Quelle des Stolzes. Dies ist vermutlich der Grund für das Verbot. Jedoch werden Vögel nicht als Eigentum betrachtet, da es sich um Wildtiere handelt. Deshalb sind sie sozusagen Diebe, die man nicht wirklich für ihren Diebstahl ins Gefängnis schicken kann. Das und die Tatsache, dass die Gegenstände, die sie nach oben geworfen haben, seit Jahrhunderten auf die Köpfe der Menschen und ihre Hausgärten gefallen sind, haben sie zu einer verhassten Gruppe von Menschen gemacht, welche systematisch diskriminiert werden. Im Laufe der Zeit unterschieden sich die muslimischen Richter in ihrer Haltung gegenüber Taubenflüsterern. Einige akzeptierten ihre Aussage und andere beschlossen, sie vollständig abzulehnen. Obwohl die modernen Staatsverfassungen das Verbot vollständig aufgehoben haben, besteht weiterhin eine unterschwellige soziale Verachtung in Form eines Sprichworts. Wenn ein Araber einer anderen Person sagt: „Du bist wie ein Taubenflüsterer“, bedeutet dies, dass die andere Person nicht vertrauenswürdig oder ein Lügner ist.

Dies ist zwar in gewisser Weise traurig, doch scheint es die Freude der Taubenflüsterer am Spielen mit den Vögeln nicht zu trüben. Ich persönlich glaube, dass sie recht haben. Wen kümmern andere Menschen, wenn man mit Vögeln sprechen kann!

Titelbild: Issam Hajjar (CC-BY-NC-ND)

Memories From Aleppo

In this series we display personal stories of places (historical monuments) in Aleppo city, told by people who had a special bond with the place. The aim of this series is to highlight the intangible aspect of heritage places in Aleppo, and to communicate the inclusion of memory in reimagining and rebuilding a place through its people. 

These contributions are part of Aleppo Heritage Catalogue Project, which seeks to document the history and architecture of historical monuments in the city of Aleppo.

Explore here with us a personal view on the history of Aleppo.