1. Die Kunst der syrischen Textilherstellung
  2. Ein Filzteppich von al-Bab
  3. Die Fäden des Lebens: Syrische Textilornamente
  4. Verborgene Persönlichkeiten: Die Frauen aus Duma
  5. Die Farbe, die ewig währt: Textildruck in Syrien
  6. Von Tieren und Pflanzen: Rohmaterialien für Textilien
  7. Ein Blick in die Welt des syrischen Seidenbaus
  8. Einblicke in das jahrhundertealte Seidenhandwerk Syriens
  9. Was bleibt von der Seidenstraße?
  10. Menschen der Wüste: Die Kleidung der Beduinen
  11. Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
  12. Traditionelle Textilherstellung: eine gefährdete Tradition
  13. Unvergessen: Der Duft der Erinnerung

von Jabbar Abdullah

ʿAjami– und Obaidi-Teppiche gehören zu den alten Volkstraditionen von ar-Raqqa, die seit der Gründung der Stadt bis in die neunziger Jahre eng mit dem Lebensstil auf dem Land und dessen land- und viehwirtschaftlichen Aktivitäten verbunden waren.

Maryam Al-Ibrahim wurde im Jahr 1956 in Kasra Sheikh Juma, einem Dorf unweit der Stadt ar-Raqqa, geboren. Das Dorf erhielt seinen Namen durch den Wasserlauf des Euphrats, der dort eine Biegung (Kasra) macht, und Faisal Sheikh Juma, einem früheren angesehener berühmten Bewohner des Dorfes. Es ist üblich, Dörfer entweder nach einem bestimmten Ereignis oder nach einer bekannten Persönlichkeit, meist einem Einwohner der Ortschaft, zu benennen. Maryam´s Vorfahren und Verwandte lebten seit mehr als einem Jahrhundert in diesem Dorf. Kasra liegt etwa 10 Kilometer vom Zentrum der Stadt Ar-Raqqa entfernt und wird von der Schnellstraße Ar-Raqqa-Aleppo in zwei Teile geteilt: Den nördlichen Teil mit Ackerland bis zum Euphratufer im Norden, und den südlichen Teil, wo die Häuser dicht an die hohen Kalksteinhügel und daran anliegende Bergwerke anschließen; umgeben von der weiten Steppe, die der Stadt Ar-Raqqa und ihrer Umgebung wichtige Weideflächen bieten.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 1: ar-Raqqa und Umgebung – © Mohamad Al Roumi
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 2: Nord- und Südseite des Dorfes Kasra, geteilt durch die Raqqa-Aleppo-Schnellstraße in der Mitte – © Mohsin Al-Ibrahim

Bis in die Achtziger war das Dorf eine kleine Ortschaft mit wenigen Dutzend Einwohnern, die von der Landwirtschaft und der Schafzucht lebten und ihr Brot aus der Weizen- und Gerstenernte backten, die sie Jahr für Jahr auf ihrem eigenen Ackerland am Euphratufer anbauten. Ihr Vieh konnten sie mit Milch, Joghurt, Käse und Butterschmalz versorgen. Aus der Wolle ihrer Schafe fertigten sie die prächtigsten ʿAjami– und Obaidi-Teppiche an, die damals und bis heute über die Stadt hinaus bekannt sind. „Ich war damals zehn Jahre alt als ich anfing, das Teppichweben zu lernen“, erzählt Maryam Ibrahim. „Meine Mutter, Adla Duhan, brachte es mir zuhause bei. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Wir hatten etwa 500 Schafe, die wir im Frühling auf das umliegende Weideland trieben, wo eine an Gras, Blüten und Dornen reiche Weide vorhanden war. Dort bauten wir gewöhnlich ein Zelt aus Ziegenhaaren auf und blieben bei den Schafen bis zum Ende des Frühlings. Diese Reise fand jedes Jahr statt.

Im Mai kehrten wir dann nach Hause zurück, schoren die Schafe, verkauften die Wolle, die wir selbst nicht brauchten, und behielten je nach Bedarf eine bestimmte Menge an Wolle, die wir jährlich für das Weben der Hausteppiche benötigten„, führt Maryam fort. „All das war eine feierliche Zeremonie, an der alle Dorfbewohner teilzunehmen pflegten.

Meine Mutter Adla wob jedes Jahr mindestens zwei Teppiche, manchmal auch drei oder vier – falls es zuhause einen wichtigen Anlass gab, etwa wenn ein Sohn oder eine Tochter heiratete, und ihr Bedarf an Teppichen für das neue Haus zu decken war.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 3: Schafe mit ihren neugeborenen Lämmern vor ihrem Stall in ar-Raqqa im Frühling – © Mohsin Al-Ibrahim
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 4: Eine Frau am Ufer des Eurphrats – © Mohamad Al Roumi

Die Vorbereitungen begannen gewöhnlich zum Sommeranfang. Zuerst befreiten wir die geschorene Wolle, das Vlies, mit der Hand von jeglichen Dornen, Blättern, Zweigen oder verkrusteten Schafexkrementen, die beim Weiden auf der weiten Steppe an den Tieren haften geblieben waren. Wenn die Wolle gut gereinigt war, taten wir sie in große Jutesäcke. In etwa kam die Wolle von fünf Schafen in einen Sack. Anschließend wurde die Wolle dann auf Esel geladen und wir brachten sie mit den anderen Frauen des Dorfes ans Euphratufer zum Waschen mit fließendem Wasser.

Dort angekommen, wählten wir einen Ort am Fluss mit einem Ufer voller Kiesel und starker Strömung, den wir Al-Mouh nennen. Die Stromschnellen spülten schnell das schmutzige Wasser mit den Säuren, Fetten und der rötlichen Erde aus der Wolle stromabwärts weg. Wir ließen die Wolle im Wasser liegen und traten dann mit den Füßen, abwechselnd mit den anderen Frauen, für etwa zwei Stunden auf das Vlies.

Danach wuschen wir die Wolle in sauberem Wasser bis es strahlend weiß war. Wir brachten es es zum trockenen Kieselufer und klopften und wrungen es mit Händen und Füßen aus, um das voll Wasser gesogene Vlies zu trocknen. Damit die Wolle leichter wird, wird sie anschließend mehrere Stunden an der Sonne zum Trocknen gelegt.

Kurz vor Sonnenuntergang packten wir die Wolle wieder in die selben Jutesäcke und kehrten nach Hause zurück, wo wir die Wolle herausholten und auf die Wäscheleinen hängten – je nach Außentemperatur zwei oder drei Tage – bis das Vlies 80 % seiner Nässe verloren hatte. Wenn die Wolle den erwünschten Trockenheitsgrad erreichte, wurde sie an einem trockenen Ort aufeinandergehäuft. Diese Haufen dienten dann dazu, dass bis zu 20 % der Feuchtigkeit erhalten blieb. Dieses Verfahren und der Feuchtigkeitsanteil sind von großer Bedeutung bei der weiteren Verarbeitung der Wolle zu größeren Leinenkarden, von denen einige rau und andere glatt sind. Das Verfahren erfolgte mithilfe einiger besonderer Werkzeuge wie dem Douk und dem Mubram.

Die Verarbeitung mithilfe des Douk und des Mubram wird von bestimmten gesellschaftlichen Zeremonien begleitet. Zu diesem Zweck versammelten sich die Frauen für etwa vier Stunden täglich bei uns zuhause, um meiner Mutter Adla zu helfen. Jede Frau brachte ihren eigenen Douk und Mubram mit.“

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 5: Eine Frau, die einen Teppich mit einem Gewichtwebstuhl webt – © Mohamad Al Roumi

‎Der Douk ist ein langer, dünner, schraubenförmiger Holzstab von weniger als 50 cm Länge, an dessen Ende zwei Holzstücke in Form von Schraube und Mutter von 10 cm Länge und 3 cm Breite befestigt sind. In der ersten Phase machen die Frauen aus dem Vlies mithilfe des Douk dicke, raue Fäden, die zu großen Rollen aufgefädelt werden.

In der zweiten Phase machen die Frauen aus jedem Douk-Faden fünf oder sechs Fäden mithilfe des Mubram, um am Ende dünne, feine, starke geflochtene Fäden zu haben.  Der Mubram ähnelt dem Douk, nur dass das am Ende des Stabs befestigte Stück aus einem einzigen zylindrischen Teil von 5 cm Länge besteht.

Für einen einzigen, 4 Meter langen und 1,2 Meter breiten Teppich benötigt man zwölf große Vliese von jeweils 2,5 kg.

Nach der letzten Phase mit dem Mubram brachte meine Mutter Adla Duhan mit einem meiner Brüder die Wollrollen mit einer dreirädrigen Autorikscha zu einem damals bekannten Teppichknüpfer in der Quwatli-Straße in ar-Raqqa, der die Fäden dann gemäß der vom Kunden erwünschten Teppichart färbt und knüpft“, erzählt Maryam. „Dieses Transportmoped wurde in der Stadt Aleppo von der Firma Najjar gebaut und gehörte damals zu den wichtigen Transportmitteln. Das motorisierte Dreirad hat einen Fahrer- und einen kleineren Beifahrersitz sowie eine große Ladefläche mit Seitenwänden über der Hinterachse.

Der Teppichknüpfer konnte lediglich zwei Teppicharten, für die ar-Raqqa bekannt war, anfertigen: der berühmteste und teuerste ist der ʿAjami-Teppich, der aus mehreren Würfeln und verschiedenen geometrischen Figuren bestand, die mit sieben oder mehr Farben gefärbt wurden. Die zweite Teppichart ist der Obaidi-Teppich; benannt nach einem berühmten irakischen Stamm dessen Angehörige sich auch in der syrischen Stadt Al-Hasaka niedergelassen haben. Er ist nicht so teuer wie der ʿAjami-Teppich und hat lediglich drei Farben: schwarz, weiß und rot, die abwechselnd in langen Linien von oben nach unten gereiht sind.

Die ʿAjami-Teppiche gehören zu den kostbarsten Teppichen und sind eng verbunden mit bedeutenden Familienereignissen. Da diese Teppiche sehr teuer sind (ein Stück kostete im Jahr 1964 75 syrische Pfund, also damals umgerechnet 34 US-Dollar), pflegten die Mittelschichtsfamilien sie nur bei Festen und besonderen familiären Anlässen wie beispielsweise Hochzeiten oder Trauerfeiern auszulegen, um sie zu schonen und ihren Wert für den Besitzer zu erhalten.

Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 6: Geometrische Muster auf einem traditionellen ‘Ajami-Teppich aus ar-Raqqa – © Khawla Abdullah
Teppiche aus Raqqa: Eine Erinnerung
Fig. 7: Geometrische Muster auf einem traditionellen ‘Ajami-Teppich aus ar-Raqqa – © Khawla Abdullah

ʿAjami-Teppiche sind außerdem ein luxuriöses Mitgift für Bräute, denn sie verleihen – insofern die Familie sie sich für ihre Tochter leisten kann – der ganzen Aussteuer einen großen Wert und  sind eine Quelle des Stolzes für Braut vor dem Ehemann und dessen Familie. Die Aussteuer (in der Mundart von ar-Raqqa zihab genannt) umfasst alle persönlichen Gegenstände und Zuwendungen, die einer Tochter bei ihrer Hochzeit zur Einrichtung des Haushaltes geschenkt werden.

Diese Teppiche werden seit den Siebzigerjahren nicht mehr in ar-Raqqa hergestellt, da die weniger teuren und aufwendig maschinell geknüpften Teppiche so weit verbreitet sind. Maryam Ibrahim erklärt: „Im Jahr 1975 schenkte mir meine Mutter Adla zwei ʿAjami-Teppiche, die ich bis heute zuhause aufbewahre. Das ist die einzige materielle Erinnerung an meine Mutter. Und weil es ein besonders wertvolles Geschenk ist, habe ich stets abgelehnt, sie zu verkaufen – auch in den finanziell schwierigen Zeiten. Ich habe sie auch niemals benutzt – weder bei mir zuhause noch bei irgendeinem familiären Anlass – damit sie weder beschädigt noch abgenutzt werden.“

Diese Teppiche – zusammen mit anderen Gegenständen, die dem einfachen Leben zugunsten der Maschinen und Technologien weichen mussten – sind Kunstgegenstände und Antiquitäten. Wer diese Teppiche zuhause hat, bewahrt sie voller Stolz.

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