von Hasan Ali

Hasan Ali lädt uns ein, Palmyra/Tadmor aus einer lokalen Perspektive zu entdecken. Er erinnert sich an die Abenteuer der Kindheit und die Aussagen der Älteren, um persönliche Landkarten kultureller Bedeutungen und sozialer Werte zu entwerfen. Als Archäologe aus Palmyra war Hasan Ali von der Zerstörung, der Plünderung und dem Vandalismus des Kulturerbes in seiner Stadt so betroffen, dass er begann, im Rahmen eines Dokumentationsprojekts die Erinnerungen der ehemaligen Bewohner Palmyras zu sammeln.

„Die Freunde meiner Kindheit, mit denen ich hah (ein traditionelles Jungenspiel) gespielt habe, sind weggegangen“ – so lautet ein lokales Sprichwort, das die Nostalgie nach der Unschuld der Kindheit und die Sehnsucht nach der Vertrautheit des Heimatortes ausdrückt. Diese Heimat zu verlieren, war  unsere Erfahrung als Einwohner von Palmyra/Tadmur in den letzten Jahren. Seitdem können wir seine Bedeutung viel besser verstehen, da wir selbst Fluchterfahrungen machen mussten. In der Tat verließen alle meine ehemaligen Nachbarskinder unsere Heimatstadt und verteilten sich über den Globus. Voneinander getrennt strandeten wir in verschiedenen Ländern, und Palmyra/Tadmur blieb allein zurück – es lag in Trümmern, und außer dem Militär war kaum jemand übrig geblieben.

Von Palmyra nach Istanbul
Das traditionelle hah-Spiel wird nur von Jungen gespielt, wobei lange und kurze Stöcke zum Einsatz kommen. Es wird vor allem auf dem Land gespielt | Das Bild findet sich auf Facebook unter https://www.facebook.com/adnanjumaalahmad/posts/188818506089438/

In Tadmur spielten meine Kameraden und ich entweder in den Straßen des zentralen Viertels in der Nähe des Sportplatzes von Ash-Shabiba (einer staatlichen Organisation, die sich an Jugendliche wendet) oder in der Nähe der Ostmauer des berüchtigten Gefängnisses von Tadmur; wir fürchteten uns davor, den Mauern zu nahe zu kommen, ohne uns Gedanken darüber zu machen, dass dort Menschen eingesperrt waren. Für das hah-Spiel sammelten wir mehrere kurze Stöcke und einen langen Stock, die meist von Oliven- oder Granatapfelbäumen stammten. Wir steckten die kurzen Stöcke (25 bis 30 cm) an den Rand des Bürgersteigs oder direkt in die Erde und schlugen sie dann mit dem langen Stock (manchmal 100 cm lang), so dass der kurze Stock so weit wie möglich flog. Wer ihn am weitesten fliegen lassen konnte, war der Gewinner.

Wenn Abud Shehab, einer meiner Freunde, Hunger verspürte, lief er nach Hause, um sich ein bestrichenes Fladenbrot zu rollen. Dessen Belag bestand entweder aus labne, einer sehr dickflüssigen Joghurtmasse, oder aus semne (Butterfett) mit einer hausgemachten Gewürzmischung namens zaʿtar (Thymian) darauf. Semne wird mithilfe des jiff zubereitet, einem Beutel aus Ziegenbalg, in dem Rohmilch lange geschüttelt wird, damit sich Butter absetzt, aus der später Butterfett gewonnen wird. Einen solchen jiff benutzen die Beduinen des Berg Al-ʿAmour (auch Abu Rajmayn genannt) ca. 50 km nördlich von Tadmur, um Produkte aus der Milch von Schafen und Ziegen herzustellen. Das Brot stammte aus der damals modernen automatischen Bäckerei De Gaulle oder der eher manuell arbeitenden Bäckerei Sulayman. Wir liefen hinter Abud her, um auch ein solches gerolltes Sandwich zu bekommen, das seine Mutter, Tante Hind, dann liebevoll für uns zubereitete.

Palmyra/Tadmor:
Im Arabischen bezieht sich der Name Tadmur sowohl auf die antike als auch auf die moderne Stadt. Dagegen wird im Deutschen und Englischen nur die antike Stadt Palmyra genannt und die moderne Stadt Tadmur wird davon unterschieden. Ein Karawanenstützpunkt in der syrischen Wüste namens Tadmur wird bereits in altorientalischen Quellen des 2. Jt. v. Chr. genannt. Als Ende der 1920er Jahre unter französischer Mandatsherrschaft nördlich der antiken Ruinen eine neue Stadt gebaut wurde, führte der neue Ort den Namen Tadmur weiter. Vor dem Einmarsch des IS im Jahr 2015 lebten in der heutigen Stadt Tadmur etwa 80 000 Bewohner.

Die Afqa-Quelle und die Oasenwirtschaft

Vor allem an den heißen Tagen warteten wir sehnsüchtig auf die Schulferien, um mit unserer Familie oder mit Freunden in den Becken mit schwefelhaltigem Wasser zu schwimmen, die von der Afqa-Quelle gespeist werden. Diese ist die Quelle des Lebens von Palmyra/Tadmor, der Grund für die Existenz des Ortes, da das Afqa-Wasser die Bewässerung der Oase sicherte. Das Quellwasser fließt in einer Kurve zum Palmenhain und durchläuft einige Erweiterungsbecken. In dem etwa zwei Meter tiefen Männerbecken (hammam az-zilim) schwammen früher die Männer. In einem der Interviews mit in der Türkei lebenden Einwohnern Tadmurs beschrieb Riyad al-Jarallah, ein ehemaliger Beamter der regionalen Wasserverwaltung, das hammam az-zilim als einen offenen Bereich, um den herum Terrassen aus Kalkstein zum Baden und zur Erholung in den Fels gehauen wurden. Während des französischen Mandats wurde darüber ein Schwimmbad (ca. 7 x 20 m) errichtet, das beim Bau des Méridien-Hotels 1985 abgerissen wurde. Das Afqa-Wasser floss auch zu einer in den 1920er Jahren errichteten Mühle, in der mithilfe der Wasserkraft Getreide gemahlen wurde. Die Mühle wurde in den 1950er Jahren entfernt, aber ein Raum davon blieb bestehen und wurde als Schwimmbecken für Frauen genutzt.

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Afqa Quellbecken mit seinem schwefelhaltigen Wasser, das aus unterirdischen Quellen im unweit gelegenen Berg dorthin geleitet wird, 1990 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Josef Härle (CC-BY-NC-SA)
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Das ausgetrocknete Afqa-Quellbecken im Jahr 2002 | Foto Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)

Als Kinder liebten wir es, im so genannten Shari‘a -Becken zu schwimmen, wo das Wasser nur seicht war. Der Name „Shari‘a -Becken“ erinnert an eine Shari‘a-Schule, die Shaykh Muhammad Shams al-Din (bekannt als Shaykh Shakas) dort im 16. Jahrhundert gegründet hatte. Die Schule ist seit langem verschwunden, aber da der Pool ein Verteilungsbecken für die Hauptkanäle ist, die die Oase bewässern, hat er bis heute überlebt.

Die Afqa-Quelle versiegte 1994 aufgrund von Bohrungen und Explosionen für den Bau des Méridien-Hotels in der Nähe der felsigen Höhle, aus dem das Quellwasser floss. Durch diese Explosionen wurde das Quellgestein beschädigt. Im Jahr 2021 hörte ich, dass die Afqa-Quelle wieder Wasser spendet.

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Das sogenannte Shari‘a -Becken, von dem aus das kostbare Nass in Bewässerungskanäle der Oase verteilt wird, 2011 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto Detlef Eckelmann (CC-BY-NC-ND) 
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Immer weniger Palmenhaine in der Oase werden noch gepflegt, der Wüstensand verschüttet langsam die Bäume | Foto Hasan Ali

Nach dem Schwimmen zogen wir uns an und liefen durch die Oasenhaine mit ihren unzähligen Palmen, Obst- und Olivenbäumen. Der Gang durch die Gassen der Obsthaine war nicht von dieser Welt und lässt sich nicht so leicht aus dem Gedächtnis löschen, da er so viele schöne Gefühle mit sich bringt. Die Wege zwischen den Lehmwänden waren manchmal zwei Meter breit und wurden von Kanälen gesäumt, an denen Bewässerungsmotoren (deren Namen wohl Andrea oder Black Stone waren) betrieben wurden. Ihre Geräusche klingen bis heute in den Ohren eines jeden Tadmuri. Ich erinnere mich, dass einige Wege wegen der Dichte der Blätter von Palmen, Oliven- und Granatapfelbäumen nicht von der Sonne beschienen wurden. Die Menschen passierten diese Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit einem Eselskarren oder einer dreirädrigen Draisine, die wir tartayra nennen. In Tadmur kannten sich die Leute, tauschten Witze aus und boten sich gegenseitig Datteln und Granatäpfel an, die sie gepflückt hatten und auf dem Markt zum Verkauf anbieten wollten.

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Verteilerstelle der Bewässerungskanäle in der Oase | Foto Hasan Ali
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Ein motorisiertes Dreirad, im lokalen Dialekt tartayra genannt, ist ein übliches Verkehrsmittel | Foto Hasan Ali

Die Tadmuris und ihre neue Stadt

Die Bewohner des ursprünglichen Dorfes Tadmur, das inmitten der Ruinen und auch im Bel-Tempel lag, wurden von der französischen Mandatsverwaltung gezwungen, in eine neu errichtete Stadt nördlich der Oasenhaine zu ziehen. Obwohl die neue Stätte den lokalen Namen adh-Dhahira trug (der von älteren Einwohnern immer noch verwendet wird), erhielt die neue Stadt den historischen Namen Tadmur. Der ehemalige Leiter des technischen Büros der Stadtverwaltung von Palmyra, der Architekt Ahmed Al-Agha, erläuterte: „Der Grund für die Umsiedlung der Bewohner aus dem alten Dorf nach Tadmur-adh-Dhahira war, dass die französischen Besatzungsbehörden den Bel-Tempel und die Denkmäler der historischen Stadt Palmyra freilegen wollten. Daher beschlossen sie 1928, dass die Bewohner ihre Häuser in den Ruinen Palmyras verlassen müssten, da sie abgerissen werden sollten. Sie sollten sich am neuen Ort ansiedeln, dessen Parzellierung und das Straßennetz von den französischen Behörden festgelegt waren.“

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Die moderne Stadt Tadmur im Jahre 1995 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

In meiner Jugend, als ich noch zur Schule ging, warteten meine Freunde und ich immer auf das Ende der Schulzeit, um mit dem Fahrrad zum archäologischen Gelände zu fahren und dort Fußball zu spielen oder zu laufen. Einmal sauste ich mit dem Fahrrad auf einem Trampelpfad in Richtung der nördlichen Gräber und des Diokletianlagers den steilen Burghügel hinunter. Ein Freund saß hinter mir, aber plötzlich spürte ich, dass das Fahrrad viel leichter geworden war. Mein Freund war herunter gefallen! Zum Glück hatte er nur oberflächliche Wunden, aber er erinnert mich bis heute an diesen Unfall.

Palmyras Ruinen

Manchmal saßen wir auch auf dem Dach eines der Grabtürme. Damals träumte ich von meiner Zukunft als Archäologe und den großartigen Büchern, die ich über die antike Geschichte der Gebäude um mich herum schreiben würde. Ich stellte mir vor, wie ich die weitläufigen Ruinen wieder so herrichten würde, dass sie wie zur Zeit unserer Vorfahren Odaenathus und seiner Frau Zenobia aussahen, und dass wir modernen Tadmuri-Bewohner darin leben könnten. Nach einigen Jahren verwirklichte ich meinen Traum, Archäologie zu studieren, und machte meinen Abschluss an der Universität Damaskus. Von 2007 bis 2015 arbeitete ich bei der Direktion für Altertümer und Museen in Palmyra. In jener Zeit liefen meine Kollegen Hassan, Muhammad, Najem und ich manchmal am späten Nachmittag den Festungshügel von Qalʿat Ibn Maʿn hinauf, um die Schatten des Sonnenuntergangs zu genießen, die die archäologischen Monumente abends in ein magisches Violett tauchten. Auch Touristen klettern gerne auf den Hügel, um die Schönheit dieser Tageszeit zu genießen.

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Jungen spielen Fußball vor der Kulisse der Ruinen von Palmyra – Blick von Norden mit den Palmyra-Ketten im Hintergrund  |  Foto: Hasan Ali

Damals war die Nacht in Palmyra ereignisreicher als der Tag. Das Sommerwetter wird in der Nacht so sanft und die Brise kühl und frisch. Familien und Freunde trafen sich spätabends oder nachts in den Höfen der Häuser. Im Winter genossen die Männer die Gastfreundschaft des Gästehauses (madafa oder manazil – wie wir Einheimischen es nennen); sie versammelten sich um die Wärme des Diesel- oder Holzofens, der soba.

Krise, die Invasion von ISIS und unsere Flucht

Meine Träume von Palmyra verblassten mit dem Ausbruch des Konflikts 2011/12, der später die Vertreibung von 60 % der Bevölkerung zur Folge hatte. In dieser Zeit suchten wir nach Sicherheit für unsere Familien und einem ausreichenden Einkommen zum Überleben, also nahm ich einen zweiten Job in einem Textilgeschäft an.

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Die Oase umgrenzt an drei Seiten den Bel-Tempel, 1956 | Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Eugen Wirth (CC-BY-NC-SA)

Als ISIS 2015 in Palmyra/Tadmur einmarschierte, wurde das Leben zur Hölle. Wir mussten aus der geliebten Stadt fliehen, um dem unvermeidlichen Tod zu entgehen. Ich floh mit meiner Familie zunächst nach Gaziantep in der Türkei, später nach Istanbul. In dem neuen Land zeigte sich das Leid in verschiedenen Schattierungen. Wir mussten Türkisch lernen und die dortigen Gewohnheiten und Lebensweisen akzeptieren. Zunächst arbeitete ich als Lehrer für syrische Geschichte und als Trainer für syrisches Kunsthandwerk für syrische Flüchtlingskinder. Im Jahr 2016 konnte ich mit Unterstützung des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul und gefördert von der deutschen Gerda Henkel Stiftung als Archäologe und später als Chronist für meine Heimatstadt arbeiten. Ich begann meine neue Arbeit mit der Dokumentation wesentlicher Aspekte des Erbes von Tadmur und seiner Umgebung sowie der Lebensweise der Menschen dort. Ich sammle Erinnerungen an wichtige Ereignisse wie den Umzug aus dem alten Dorf in die neue Stadt und an die Zeiten der Machtschwankungen im 20. und 21. Jahrhundert, da ich es für notwendig halte, die Gemeinschaft der Tadmuris wieder zu verbinden, das Wissen über die moderne Geschichte Palmyras zu schützen und den Menschen in der Diaspora eine Stimme zu geben. Im Jahr 2020 haben wir „Palmyrene voices“ initiiert und ein Einkommensprojekt mit traditionellen Handwerksprodukten aus Tadmur gestartet.

Nach meiner Einschätzung ist die Heimkehr der Einwohner von Tadmur für die nächste Zukunft eher unwahrscheinlich. Aber wir wollen zurückkehren, um zusammen mit Experten den Erhalt des historischen Palmyra auch für zukünftige Generationen zu sichern. Es muss ein Weg gefunden werden, das Wissen und das Erbe zu bewahren, damit es von den Großeltern an die Enkel weitergegeben werden kann. Der beste Weg ist, die durch den massiven Exodus der Bewohner von Tadmur entstandene Lücke zu schließen, indem das kollektive Gedächtnis der Palmyra-Flüchtlinge in der Diaspora aufgezeichnet und analysiert wird, so dass sie ihre Geschichten und Erinnerungen mit ihren Kindern und der ganzen Welt teilen können. Unsere Hoffnung bleibt, dass wir eines Tages in unsere Heimat Tadmur/Palmyra zurückkehren können und auch künftige Generationen diese Hoffnung bewahren werden.


Titelbild: Blick auf das historische Palmyra mit der modernen Stadt Tadmur im Hintergrund und den Ausläufern der Oase auf der westlichen Seite, 2002 | Foto Peter Heiske (CC-BY-NC-ND)


Autorenschaft von Hasan Ali: Hasan Ali ist ein palmyrenischer Archäologe und Historiker mit einem Bachelor der Universität Damaskus. Mit Unterstützung des Deutschen Archäologischen Instituts Istanbul dokumentiert er das kulturelle Erbe Palmyras und seiner Umgebung im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart. https://palmyrenevoices.org/

ِAutorenschaft von Hiba Bizreh

Archäologin aus Syrien. Arbeitete am Syrian Heritage Archive Project in der Zeit von 2018-2019

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